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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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diesen Geruch, da er sie an ihre eigene Studierstube auf dem Gut ihres Vaters erinnerte, gleichzeitig löste er in ihr jedoch auch ein schmerzliches Gefühl von Verlassenheit aus, das sie unweigerlich an ihre Vertreibung aus Lippendorf sowie die Rolle denken ließ, die Sebastian von Bora und dessen Braut dabei gespielt hatten.
    Philippa zwang sich, ihre Gedanken auf die bevorstehenden Unterrichtsstunden zu lenken. Prüfend schritt sie die Reihen der einfachen Holzbänke ab, die erst vor kurzem mit Scheuersand bearbeitet worden waren. Offensichtlich war es den Herren ernst mit Philippas Berufung zur Magistra, ein Umstand, der ihr Herz trotz der aufregenden Geschehnisse des vergangenen Tages höher schlagen ließ.
    Die tabula magistrae stand ein wenig erhöht auf einem schmalen Podest, von dem aus es ein leichtes war, sämtliche Bankreihen zu überblicken. Philippa setzte sich und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über das blanke Holz. Darunter entdeckte sie den Griff einer kleinen Lade. Als sie an ihm zog, bemerkte sie zu ihrer Überraschung eine Anzahl von Büchern und Notizen, welche die letzte Schulmeisterin hinterlassen hatte, und fragte sich, ob sie es verantworten konnte, die Schriften herauszunehmen und zu begutachten.
    Aus den beiden Sälen, die sich am anderen Ende des Korridors befanden, klangen leise Stimmen zu ihr herüber. Die Universität verfügte auch nach ihrem Umzug in ein eigenes Gebäude in der Collegienstraße noch über einige Lehrräume im Schwarzen Kloster, und die meisten davon lagen in diesem Trakt des Hauses. Philippa hatte während der letzten Tage einige Studenten kennengelernt. Die meisten waren sich der Ehre wohl bewußt, im Haus ihres großen Vorbildes wohnen und studieren zu dürfen. Katharina wiederum empfing ein ausreichendes Kostgeld, das ihr bei der Bewirtschaftung ihres Gutes zugute kam. Dennoch fragte sich Philippa, ob es nicht zu Problemen führen konnte, wenn sie die Mädchen aus der Stadt Wand an Wand mit einer Schar lebenslustiger junger Studenten unterrichtete. Hatte Luther nicht neulich erst von einem Teufelspakt gesprochen, in den ein neugieriger Student verwickelt gewesen war? Sie schauderte bei dem Gedanken, der Bursche könnte seine okkulten Riten in den angrenzenden Räumen abgehalten haben.
    Die spärlichen Aufzeichnungen der Schulmeisterin, die vor ihr unterrichtet hatte, gaben Philippa nur wenig Aufschluß über den Kenntnisstand ihrer Zöglinge. Zahlreiche Bögen enthielten kaum etwas anderes als Zahlen, Rechenbeispiele, die jedoch ohne offensichtlichen Zusammenhang lediglich aneinandergereiht worden waren. Auf zwei weiteren Blättern waren ungelenke Federzeichnungen zu erkennen, Bilder von kugelrunden Neugeborenen, die auf dem Bauch oder Rücken lagen und ihre kleinen Arme in die Luft streckten, während ihre nur durch Tintenkleckse angedeuteten Augen empfindungslos ins Leere starrten.
    Wenig erbaut schob Philippa die seltsamen Zeichnungen in die Lade zurück und nahm sich statt dessen die wenigen erhaltenen Bücher vor. Diese Schulbücher entsprachen, so weit sie sehen konnte, genau dem Lehrplan, den Luther selbst ihr am Vortag erklärt hatte. Philippa entdeckte ein Lese- und Buchstabierbuch der deutschen Sprache, dem auch einige Exempel für Verstandesübungen beigefügt waren, ferner einige Ausgaben vom Katechismus ihres Onkels, zwei Psalter in abgewetztem Ledereinband und eine deutsche Übersetzung des Neuen Testaments.
    Mehr allerdings fand sie nicht. Allem Anschein nach lag ihrem Onkel und dem Praeceptor Germaniae weniger daran, den Mädchen ihrer Stadt die Schätze humanistischer Erkenntnis zu erschließen, als vielmehr sie in der reformatorischen Lehre zu erziehen und von den Gefahren und Verlockungen des Jungfernstandes fernzuhalten. Folgerichtig stand auf der Rückseite der Fibel zu lesen:
    »Es ist von Gott geboten, die Mädchen genau wie die Knaben recht in Gottesfurcht aufzuziehen, und die Juden haben solches immer getan. Und es sind feine, heilige Jungfrauen, wohlerzogen in christlicher Lehre, um des heiligen Evangeliums willen getötet worden, wie Agnes, Barbara etc. Es liegt kein geringer Nutzen darin, denn die Mädchen kommen weg von der Straße, von unzüchtigem Gesindel, Volk, Fremden, Trinkern, und sie hören keine Unzucht und lernen auch keine liederlichen Reimlieder, wie früher lange geschehen ist …«
    Der letzte Satz ließ Philippa aufhorchen.
    »Die Schulmeisterin soll den Kindern keine unnützen Bücher in die Hand geben, die

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