Die Magistra
träumte.
Noch auf der Treppe verwarf Philippa ihren Gedanken, die Muhme aufzusuchen. Das Gastmahl zu Ehren der Schmalkaldischen Bundesgenossen sollte nach dem Wunsch der Lutherin im großen Saal, dem ehemaligen Refektorium, stattfinden. Philippa mußte sich mächtig beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollte. Die dröhnenden Schläge der Turmuhr von St. Marien, die genau in diesem Augenblick über die Dächer und Mauern des Schwarzen Klosters schallten, trieben sie nur noch mehr zur Eile an. Am Fuß der Treppe empfing sie Katharina in einem prachtvollen Festgewand.
»Wo bleibst du denn, Philippa? Gerade habe ich Valentin zu deiner Kammer geschickt, um nach dir zu sehen. Und wie siehst du nur aus? Was ist das für ein Staub auf deinem Ärmel? Kreide?« Mit wachsendem Unmut umkreiste die Lutherin ihre Nichte, darauf gefaßt, an deren Erscheinung weitere Mängel zu entdecken. Als sie nichts weiter bemerkte, nickte sie kurz und beschied Philippa in versöhnlicherem Ton: »Ruf sofort deine Amme herbei. Sie soll dich abbürsten. In dieser Aufmachung kannst du unmöglich an einem kurfürstlichen Mahl teilnehmen!«
»Ich dachte, Kurfürst Johann Friedrich ließe sich entschuldigen, Tante?«
Katharina blickte sie erstaunt an. »Seine Durchlaucht nimmt vor wichtigen Entscheidungen niemals persönlich an einer Feierlichkeit teil. Aber er wird durch seine ersten Kanzler, Spalatin und Herrn von Taubenheim, vertreten. Außerdem gibt uns der Vertraute des Landgrafen von Hessen mit seiner Gemahlin die Ehre.«
Der Wagenzug des Eidgrafen, der im Auftrag der hessischen Bundesgenossen die feierliche Verlesung und Beglaubigung der Schmalkaldischen Artikel beaufsichtigen sollte, hatte Wittenberg wegen eines Achsenbruchs später erreicht als vorgesehen. Die ganze Nacht hatte das Schloßtor offengestanden und war bis zum Steg der Fährleute hinunter von Pechfackeln beleuchtet worden. Doch es hatte noch bis zu den frühen Mittagsstunden gedauert, ehe der erste Reiter seinen Einzug in die Stadt der Kurfürsten von Sachsen gehalten hatte.
»Du wirst deinen Platz am rechten Flügel der Tafel einnehmen, Philippa«, rief ihr die Tante nach, als sie die Tür der Durchgangskammer zur Küche öffnete, um sich nach Roswitha umzusehen. »Dein Onkel wollte, daß ich dich neben den jungen Krapp setze, Melanchthons Schwager, aber inzwischen hat mich ein anderer Bursche gebeten, heute abend dein Tischherr sein zu dürfen. Hält sich wohl für unwiderstehlich mit seinen schwarzen Augen.«
Philippa wandte sich abrupt um. »Darf ich auch erfahren, wem diese schwarzen Augen gehören?« Die Frage war ebenso überflüssig wie der leutselige Blick, mit welchem Katharina sie beantwortete.
»Ich spreche selbstverständlich von Magister Bernardi«, erklärte die Lutherin belustigt. »Melanchthon hat ihm eine Einladung verschafft, er müßte eigentlich längst hier sein.«
»Das ist er auch, Tante. Zufällig habe ich vorhin einen Mann auf dem Hof bemerkt, dessen Augenfarbe zu Eurer Beschreibung passen dürfte.«
Über das Gesicht der Lutherin huschte ein Lächeln. »Ich möchte nur wissen, mit welchem Zauber es Bernardi immer wieder schafft, meinen Luther um den kleinen Finger zu wickeln!«
11. Kapitel
Die geräumige Halle, in der Martin und Katharina Luther ihre Gäste bewirteten, leuchtete im Licht zahlreicher Fackeln, Öllampen und Wachskerzen. Insbesondere die Kerzen ließen die blitzblanken Holzschragen, die in Form eines Hufeisens fast die gesamte Breite des ehemaligen Refektoriums einnahmen, in einem seidigen, bläulichen Schimmer erstrahlen, der sowohl Männern als auch Frauen laute Rufe der Bewunderung entlockte.
Philippa nahm ihren Platz am rechten Flügel der Tafel ein und stellte erleichtert fest, daß weder Bernardi noch der Sohn des Patriziers Krapp sich bislang an ihrer Seite eingefunden hatten. So blieb ihr wenigstens ausreichend Gelegenheit, sich den Saal anzusehen, den die Tante während der vergangenen Tage sorgfältig verschlossen gehalten hatte. Der Raum ließ in nichts mehr erkennen, daß hier noch vor wenigen Jahren Bettelmönche ihre kärglichen Mahlzeiten eingenommen hatten. Er war rechteckig und etwa doppelt so groß wie die Halle der von Boras in Lippendorf. Die Wände wurden von Teppichen in leuchtenden Rot- und Grüntönen geschmückt. Dort, wo die beiden Enden der Tafel sich öffneten, führten drei mit einem orientalischen Teppich bedeckte Stufen zu einem Podest hinauf, auf welchem ein einziger mit weißen Tüchern
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