Die Magistra
das Übel des Stolzes in ihrer Natur erwecken.«
Mit einem Seufzer räumte sie die Bücher in ihre Lade zurück. Unvermittelt kratzte der trockene Staub der Kreide so stark in ihrer Kehle, daß sie nur mühsam ein Husten unterdrücken konnte. Gleichzeitig fühlte sie, wie ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung sie erfüllte. Gewiß war es einfältig gewesen, von einer Schule zu träumen, die Frauen und Mädchen zu Gelehrten erzog wie die universitas . Aber war es denn wirklich so gegen die Natur, wenn auch weltliche Mädchen die freien Künste kennenlernten, sich mit Musik, Geometrie und Latein beschäftigten, um wenigstens einen Teil jener geistigen Früchte zu genießen, welche die Scholaren und Magister ganz selbstverständlich ernten durften? Wozu die Erwähnung der heiligen Frauen, Agnes und Barbara, die zu ihrer Zeit durch Wissen und Lerneifer Wunder wirkten, wenn man ihre geistigen Töchter mit Singstunden und dem Auswendiglernen einiger Psalmen abspeisen wollte? Philippa fragte sich, ob es unter diesen Umständen für sie überhaupt einen Sinn hatte, das Amt der Wittenberger Magistra anzutreten.
Unwillkürlich mußte sie an die hölzerne Heiligenfigur denken, die noch immer unentdeckt zwischen ihren Sachen in der Schlafkammer lag. Auch die Heilige war eine Gelehrte gewesen, und ihre Mutter hatte sie aus Gründen, die Philippa nicht kannte, bis in den Tod hinein verehrt. Beschämt gestand sich Philippa ein, daß sie über die Aufregungen der letzten Tage ihr Ziel, mehr über ihre Mutter und ihre Rechte am Lippendorfer Erbgut in Erfahrung zu bringen, nahezu aus den Augen verloren hatte. Nur um ihr zu helfen, hatte ihr sterbender Vater sie an seine Schwester Katharina verwiesen, doch war es für Philippa kein leichtes, sich der Tante anzuvertrauen. Katharina dachte im Moment vor allem an die Bewirtschaftung ihrer Güter, den Umbau des Hauses, das Gastmahl für die hohen Herren und die Gesundheit ihres Doktors, wenn sie auch darauf bedacht war, ihrer Nichte bei der Eingewöhnung im Schwarzen Kloster zur Seite zu stehen.
Was Philippa an ihrer Tante indessen bewunderte, war deren kühler, mathematischer Verstand, dem sich ein phänomenales Gedächtnis anschloß. So hatte die Lutherin sie gleich nach dem Frühstück in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, daran erinnert, ihren längst überfälligen Antrittsbesuch bei der Muhme Lene nicht länger hinauszuschieben. Philippa, die froh war, Katharinas Aufsicht für eine Weile zu entkommen, fügte sich in ihr Schicksal und ließ sich von Roswitha bis zur Tür ihrer Großtante begleiten.
***
Die Unterhaltung mit der alten Frau, die ihre Stube niemals verließ, gab Philippa reichlich Anlaß zum Grübeln, und sie nahm sich fest vor, Roswithas blumigen Berichten von den Umtrieben im oberen Geschoß des Schwarzen Klosters künftig mit mehr Argwohn zu begegnen. Magdalena von Bora, die ehemalige Siechenmeisterin der Zisterzienserinnen von Marienthron, war eine hochgewachsene, schlanke Frau mit eisgrauen Haaren, die mit der korpulenten Roswitha in der Tat wenig Gemeinsamkeiten hatte, sah man einmal davon ab, daß beide die Spuren jahrelanger, schwerer Arbeit trugen. Über den Gesichtszügen der Muhme lag indes eine beinahe mystische Aura klösterlicher Askese und tiefer Frömmigkeit. All dies vermittelte Philippa das Bild einer Frau, die ihr Leben auf der Suche nach Frieden für ihre Seele aufgebraucht hatte und nun täglich darüber nachdachte, wen sie preisen und wen verfluchen sollte: ihren Gehorsam gegenüber der römischen Kirche, der sie zu einem Leben hinter Klostermauern inspiriert hatte, oder den Mann, dessen Schriften dieses Dasein in Frage gestellt hatte und unter dessen Dach sie nun ihren Tod erwartete.
Zwei volle Stunden hatten sie miteinander geredet. Während dieser Zeit war Roswitha mehrmals mürrisch in die Stube gelaufen und hatte so getan, als suchte sie etwas. Irgendwann hatte sich Philippa ein Herz gefaßt und die Muhme gefragt, was sie über ihre Mutter, über deren Herkunft und Tod wußte. Plötzlich war jeglicher Glanz in den Augen der alten Frau erloschen. Sie ließ die Spindel, die sie so munter zwischen ihren schlanken Fingern gedreht hatte, zu Boden gleiten und krümmte den Rücken wie eine Katze, die einen Orkan witterte.
»Katharina und ich waren damals in strenger Klausur«, sagte sie nach einer Pause. Sie schloß die Augen und ließ ihr spitzes Kinn auf die Brust sinken. »Nikolaus hat aus seiner italienischen Gemahlin immer ein
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