Die Magistra
überzogener Tisch stand. In früheren Zeiten war dies der Platz des Abtes und der kirchlichen Würdenträger gewesen, nun war er dem Abgesandten des Landgrafen von Hessen, seiner Gemahlin und den kurfürstlichen Räten vorbehalten. Martin Luther und Katharina hatten es vorgezogen, ihre Plätze am unteren Ende der Tafel einzunehmen. Ihnen gegenüber hatten sich Melanchthon, dessen Frau und der Schreiber Lupian niedergelassen. Philippa hörte, wie der kahlköpfige Mann leise auf seinen Nachbarn einredete und verstohlen auf die noch leeren Plätze deutete.
Philippa seufzte. Ihr Kopf tat ihr bereits seit dem Nachmittag in der stickigen Schulstube weh, und der Umstand, daß auf der Galerie über ihr die Spielleute begonnen hatten, das Gemurmel an den Tischen mit Flötenklängen und Lautenschlägen zu überziehen, steigerte das Pochen in ihren Schläfen noch. Um sich abzulenken, ließ sie ihre Blicke hinüber zum Ehrentisch wandern. Der Eidgraf war nicht sonderlich hochgewachsen, verfügte jedoch über eine muskulöse Gestalt. Dichtes blondes Haar quoll unter seinem samtenen, scharlachroten Federhut hervor, auch sein Bart war blond. Philippa fiel auf, daß mehrere Ringe mit funkelnden Steinen an seinen Fingern blitzten. Die Kleidung des Grafen bestand aus einem kostbaren Wams aus schwarzer Seide, das mit goldenen und silbernen Streifen durchwirkt war. Um den Hals trug er eine fächerförmig gefaltete Krause, über der eine schwere Goldkette baumelte. Philippa mußte zugeben, daß eine gewisse Faszination von ihm ausging, und ein Feuer, das bislang nur beim Studium ihrer Schriften in ihr geglüht hatte, umfing sie. Als der Eidgraf sie plötzlich mit einem neugierigen Blick bedachte, neigte sie leicht den Kopf und hoffte inständig, daß sie vor Verlegenheit nicht errötet war.
Verglichen mit seiner glänzenden Erscheinung wirkte die Eidgräfin neben ihrem Gemahl scheu und unscheinbar. Alles an ihr schien sich in trüben Grautönen zu verlieren: ihr Kleid aus flandrischem Taffet, der Kopfputz, das silberne Ohrgehänge, ja, selbst die mandelförmigen Augen, mit denen sie jede Bewegung ihres Gemahls maß, als verkündeten sie ihr entweder Glückseligkeit oder drohendes Unheil.
Felix Bernardi und ein junger Mann betraten fast gleichzeitig den Saal, schauten sich einige Momente lang suchend um und steuerten dann auf die leeren Plätze rechts und links von Philippa zu. Der ehemalige Prediger bedachte sie mit einem spöttischen Lächeln. »Ich hoffe, Ihr verzeiht mir meine Verspätung, verehrte Philippa. Hoffentlich habe ich noch nichts vom Spektakel des heutigen Abends versäumt.«
»Warum hättet Ihr Euch beeilen sollen, Bernardi, schließlich habt Ihr meine Tante bestochen, Euch den Platz an meiner Seite zu geben«, erwiderte Philippa. »Womit eigentlich? Etwa mit dem Faß Malvasier, das vorhin auf den Hof gezogen wurde?« Fast hätte sie sich nach dem Grund seines Streites mit Maria Lepper erkundigt, doch lag ihr nichts daran, sich selber als heimliche Beobachterin zu entlarven.
Der Jüngling, der zu ihrer rechten Hand Platz genommen hatte, lachte. »Nicht schlecht, Jungfer, wirklich gut pariert. Zumal das Faß Rheinwein so manchem braven Wittenberger wahrhaftig übel aufstoßen würde, wenn er wüßte, daß der Landgraf von Hessen es unserem Doktor Luther nur deshalb zum Geschenk gemacht hat, weil der …«
»Haltet gefälligst den Mund, Krapp«, fuhr Bernardi dem Jungen ins Wort. »Philippa, das ist Hieronymus Krapp, der Neffe des Bürgermeisters. Wie mir scheint, hat er vor dem Gastmahl Eures Onkels noch rasch in einem Wirtshaus vorbeigeschaut. In nüchternem Zustand würde er wohl kaum so viel Unsinn daherreden!«
»Unsinn?« Wütend brauste der Jüngling auf, seine Hand fuhr an die Seite seines mit roter Seide gefütterten Wamses, doch Philippa legte eilig ihre Hand auf Krapps Arm und bat ihn, sich wieder zu setzen, ehe die anderen Gäste auf den Disput der beiden Männer aufmerksam wurden.
»Vielleicht habt Ihr es noch nicht bemerkt, Bernardi, aber ich bin kein Geschöpf aus Glas«, sagte sie, dem zweiten Streithahn zugewandt. »Was meine Ohren an Klatsch ertragen können oder nicht, entscheide ich gerne allein.«
Ein Fanfarenstoß von der Galerie enthob Bernardi einer Erwiderung.
Sämtliche Flügeltüren des Festsaales wurden gleichzeitig geöffnet, und ein feierlicher Zug von jungen Dienern und Dienerinnen setzte sich langsam in Bewegung. Die männlichen Bediensteten hielten schwere, prachtvoll verzierte
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