Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
Vom Netzwerk:
Entscheidung er auch trifft, wir dürfen nicht vergessen, daß Euer Onkel zu einem großen Werk berufen wurde. Aber auch er ist ein Mensch, der Fehler begeht. Ich selbst empfinde die meisten der Schmalkaldischen Artikel als zu scharf formuliert. Sie trennen die Evangelischen endgültig von den Altgläubigen, statt sie zu vereinen, und reißen Wunden wieder auf, die längst verheilt sein könnten. Habt Ihr jemals von den Lemmingen gehört, Philippa?«
    »Ihr meint die Tiere, die sich freiwillig ins Meer stürzen?«
    Der Gelehrte nickte. »Seit Urzeiten suchen sie ein verlorenes Paradies in Richtung der aufgehenden Sonne. Die Sehnsucht nach dem Paradies ist so stark, daß sie von Generation zu Generation weiter vererbt wird, selbst hohe Klippen hindern sie nicht daran, ihre Wanderung fortzusetzen. Letztendlich stürzen sie ins Meer und ertrinken. Manchmal frage ich mich, was uns eigentlich noch von ihnen unterscheidet!«
    ***
    Philippas Einfall, die Organisation der Wittenberger Lateinschule auf die Mädchenschule zu übertragen, erwies sich als geschickter Zug. Johannes Luther erbot sich eines Nachmittags, ihr bei der Überarbeitung der neuen Lehrpläne zu helfen. Philippa nahm das Angebot des Jungen dankbar und überrascht zugleich an. Seit dem Tag, als sie ihn und seine Kameraden bei ihrer verunglückten Jagd auf die Barle vor der Stadtmauer ertappt hatte, war der Junge ihr aus dem Weg gegangen.
    »Du mußt deine Klasse nach dem Alter in drei Gruppen aufteilen«, empfahl er seiner Cousine nachdrücklich, als sie in der Schulstube beisammen saßen, Honigkringel aßen und über Philippas Notizbuch mit Melanchthons Vorschlägen nachdachten. »Andernfalls wirst du weder Ordnung noch Disziplin in deine gackernde Hühnerschar bringen.«
    Philippa hob in gespielter Empörung die Augenbrauen. »Johannes, so solltest du nicht über die zukünftigen Gemahlinnen deiner Kameraden sprechen. Im übrigen verfügt die Lateinschule für jede secta über einen Kantor, einen Bakkalar und einen Lokatus. Ich aber unterrichte allein in der Mädchenschule. Soll ich mich zerteilen wie die heilige Dreifaltigkeit?«
    »Wäre nicht schlecht, wenn ich an drei Orten zur gleichen Zeit sein könnte«, bemerkte Johannes. Seufzend griff er nach dem letzten Honigkringel. Philippa nickte verständnisvoll und schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. Der Junge war mit seinen zwölf Jahren Luthers ältester Sohn, und es war üblich, daß Scholaren seines Alters in die Obhut eines fremden Lehrmeisters gegeben wurden, um ihre Studien der sieben freien Künste abzurunden. Gleich nach dem Osterfest sollte Johannes das Schwarze Kloster verlassen, und obwohl er sich bemühte, forsch und überlegen aufzutreten, war ihm anzumerken, daß er dem Tag seiner Abreise mit Unbehagen entgegensah.
    »Vielleicht wäre ein Gehilfe eine Lösung?« schlug Philippa vor, um ihren Cousin aus seiner melancholischen Stimmung zu holen. Während der letzten Tage war er ihr stärker als seine jüngeren Geschwister ans Herz gewachsen. Vor allem, da er mehr als die Kleinen unter der Strenge seines Vaters zu leiden hatte.
    »Keine schlechte Idee«, überlegte Johannes, »doch deine Hilfe müßte ein Mädchen sein, das gebildet genug ist, um dir zur Hand zu gehen. Außerdem mußt du ihr vertrauen können.«
    Philippa klappte ihr Buch zu und stand auf. Einen Augenblick zögerte sie, ehe sie erklärte: »Ich würde es gern einmal mit Maria Lepper versuchen. Sie hat eine rasche Auffassungsgabe und schreibt sehr ordentlich. Davon abgesehen wird ihr Latein von Tag zu Tag besser. Du solltest dir einmal die Abhandlung anschauen, die sie mir gestern in die Kammer gelegt hat. Sie hat mir nicht verraten, wie sie es neben ihren häuslichen Pflichten überhaupt noch schaffen konnte, den halben Donatus zu lesen und sich den Kopf über Aesops Fabeln zu zerbrechen.«
    »Eine Hofmagd als Schulgehilfin?« entgegnete Johannes zweifelnd. »Mag ja sein, daß Maria nicht dumm ist, aber meine Mutter und die Köchin werden nicht begeistert davon sein, ausgerechnet sie freizustellen. Außerdem könnte deine Wahl die Frauen aus der Stadt vor den Kopf stoßen.«
    Philippa strich sich nachdenklich über die Wange. Es war erstaunlich, wie scharfsinnig der Junge die Menschen im Schwarzen Kloster und ihr Verhältnis zu den verschiedenen Ständen beurteilte. »Ich brauche Maria Lepper und keine andere«, erklärte sie schließlich. »Sie muß in ihrer Jugend etwas so Furchtbares erlebt haben, daß sie mit niemandem

Weitere Kostenlose Bücher