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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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darüber reden mag. Unser Unterricht wird ihr helfen, mir allmählich zu vertrauen. Erst gestern, als wir am Kamin beieinander saßen und lateinische Verben bestimmten, hatte ich das Gefühl, daß sie mir etwas sagen wollte.«
    »Und hat sie etwas gesagt?«
    »Nein, sie tat so, als hätte sie Schritte auf dem Kreuzgang gehört, und dann fiel ihr plötzlich ein, daß sie noch zusammen mit deiner Mutter den Vorrat an Sämereien begutachten mußte, und lief davon.«
    Johannes ging zum Fenster hinüber und blickte auf den Hof. Philippa bemerkte, daß er über etwas nachdachte. Eine Weile verharrte er stumm, ehe er sich wieder umdrehte.
    »Mutter hat mir versprochen, daß sie mir einen Wunsch erfüllen würde, bevor ich Wittenberg verlasse. Wenn dir die Lepper als Schulgehilfin also so wichtig ist …«
    »Das würdest du wirklich tun?« Stürmisch drückte Philippa den Jungen an sich. »Ich möchte aber nicht, daß deine Mutter ärgerlich auf dich wird!«
    »Keine Sorge, verehrte Cousine. Ich bin der einzige, der ärgerlich wird, wenn du mich nicht sofort aus deinem Klammergriff entläßt!«
    Gutgelaunt verließ Johannes Luther die Schulstube. Philippa freute sich. In ihrem Cousin hatte sie einen Freund gefunden, auch wenn er sie schon recht bald verlassen mußte. Auf dem Flur stürmte eine Schar Scholaren vorbei. Die jungen Männer gaben sich nicht besonders viel Mühe, leise zu sein. Philippa konnte hören, wie sie einander mit griechischen Schimpfnamen belegten. Mit einem Schlag verflog ihre heitere Stimmung wieder. Ohne nachzudenken, öffnete sie die Lade ihres Katheders und holte Marias kleine Abhandlung hervor. Mit aufgestützten Ellbogen vergrub sie sich in die wenigen, jedoch sehr überlegt formulierten Sätze. Sie hatte Johannes nur die halbe Wahrheit gesagt, eben soviel, wie man einem Kind zumuten konnte. Verschwiegen hatte sie indessen die verbundene Hand der Dienstmagd, den angeblich geklemmten Daumen, der ihre Schrift entstellte; und auch von dem blutigen Abdruck auf dem Pamphlet, das jemand an das Hauptportal des Schwarzen Klosters befestigt hatte, hatte sie nicht gesprochen.
    ***
    Am nächsten Morgen führte Philippa ihre Schülerinnen zur Schloßkirche, wo ihr Onkel eine Morgenandacht abhielt, um für die Verhandlungen in Schmalkalden den Segen Gottes zu erflehen.
    Als sie das gewaltige Kirchenschiff betrat, hielt Philippa überrascht inne. Sie hatte nicht erwartet, daß sich sämtliche Honoratioren der Stadt, einschließlich der Zunft- und Gildenmeister, versammelt hatten, um Martin Luther predigen zu hören. Dicht gedrängt standen die Menschen beisammen, manche flüsterten, die meisten warteten jedoch ergeben, daß der verehrte Reformator die Stufen zur Kanzel hinaufging. Philippa schwitzte unter dem weißen Schleier und dem gefütterten Umhang und blickte sich nach einem Platz für ihre Schülerinnen um. Durch die Federhüte, Samtkappen und Schleier der Umstehenden konnte Philippa den mit gelbem Samt bezogenen Sessel des Kurfürsten erkennen. Dieser Sessel stand erhöht, der Landesherr sollte bei der Predigt keinesfalls unter den Augen des Prädikanten sitzen.
    Auf der linken Seite schimmerten die roten Samtroben und Baretts der Universitätsangehörigen sowie die kostbaren Wämser und Röcke der Ratsherren, während die rechte Hälfte des Kirchenschiffs den Hofleuten vorbehalten blieb. Wolfger von Hoechterstedt saß seinem Stand gemäß gleich hinter dem Kurfürsten. Er war ganz in Schwarz gekleidet, allein sein Halskragen und die Ärmelaufschläge leuchteten weiß.
    Die Mädchen wurden ungeduldig und begannen miteinander zu tuscheln. In einer Gruppe von Scholaren hatten sie Johannes Luther entdeckt. Philippa bahnte ihren Schülerinnen einen Weg durch die Menge und wies sie flüsternd an, hinter den Lateinschülern Aufstellung zu nehmen.
    Die Predigt, die dem Kurrendesingen der Scholaren folgte, war lang und ermüdend.
    Mit vielen Worten erklärte Doktor Luther seiner Gemeinde, welche Hoffnungen er mit der neuen Bekenntnisformel verband. Nach langem Ringen seien er und seine Mitarbeiter in der Lage, den Menschen, die ihm folgten, mehr Licht und Wahrheit zu offerieren, als die sieben Sakramente der Papstkirche es jemals konnten. In gewissen Abständen begleitete zustimmendes Gemurmel seine Worte. Luther blickte sich zufrieden um. Obwohl sein Gesicht deutliche Spuren von Krankheit und Entbehrung trug, strahlten seine dunklen Augen voller Tatendrang. Als schließlich der Himmel einige Sonnenstrahlen

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