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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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den letzten Nagel, und das besudelte Papier segelte zu Boden. Rasch bückte sich Katharina, um es aufzuheben, ehe Philippa einen Blick darauf werfen konnte. Während die Lutherin die wenigen Zeilen überflog, begann sie immer hektischer zu atmen. Dann hob sie den Blick und sagte: »Dein Onkel darf dieses Blatt unter keinen Umständen zu Gesicht bekommen. Niemals, hast du mich verstanden?«
    »Aber was hat es denn mit dem Papier auf sich? Wer kann es mitten in der Nacht an eure Tür geschlagen haben?« wollte Philippa wissen.
    Mit düsterer Miene reichte ihr Katharina das Papier. »Lies laut vor!« forderte sie die Nichte auf. »Deine Amme mag es ruhig hören!«
    »Wir nehmen dich aus allen Rechten und setzen dich ins Unrecht und teilen deine Hauswirtin zu einer Witwe und deren Kinder zu Waisen, deine Lehen dem Herrn, von dem sie zu Lehen rühren, dein Erb und Eigen deinen Kindern, deinen Leib und dein Fleisch den Tieren in den Wäldern, den Vögeln in den Lüften, und den Fischen in den Wassern; wir erlauben auch jedem, dich auf allen Straßen zu töten, und wo ein jeglicher Mann Fried und Geleit hat, sollst du keines haben.«
    Schaudernd ließ Philippa den zerknitterten Bogen sinken.
    »Verstehst du jetzt, Nichte?« rief die Lutherin voller Schmerz. »Dies ist der Text der Reichsacht, mit der mein Luther vor vielen Jahren vom Kaiser für vogelfrei erklärt wurde. Wenn heute in Wittenberg jemand die Acht an unsere Tür nagelt, kann das nur bedeuten, daß sich doch noch jemand gefunden hat, um den Auftrag des Reichstags auszuführen – deinen Onkel zu ermorden!«
    »Aber Herrin«, wandte Valentin Schuhbrügg schüchtern ein, »wir haben sämtliche Tore verriegelt, gleich nachdem die Männer des Eidgrafen Euer Gastmahl verlassen hatten.«
    Philippa schritt die wenigen Stufen vor dem Portal hinunter und ließ ihre Blicke über den einsamen Hof schweifen. Einen Herzschlag lang glaubte sie, jenseits des Badehauses ein Licht aufflackern zu sehen, und wurde jäh an ihren Traum von dem mannshohen Eisenkäfig erinnert.
    »Niemand macht dir einen Vorwurf, Valentin«, erklärte die Lutherin besänftigend. »Das Schwarze Kloster ist schließlich keine Festung. Hinter den Wirtschaftsgebäuden gibt es Dutzende von losen Zaunpfählen. Auch die Klostermauern stellen für eine wendige Person kaum ein Hindernis dar.«
    »Kommt wieder ins Haus zurück, ehe Ihr Euch den Tod holt, mein Herz.« Roswitha legte Philippa ihr grobes Wolltuch um die Schultern. »Wenn heute nacht wirklich ein Eindringling im Hof war, so hat er sich längst aus dem Staub gemacht, ansonsten …«
    Sie brach mitten im Satz ab. Aber Philippa verstand auch ohne Worte, was ihre Amme nicht auszusprechen wagte. Wenn der Täter nicht im Schutze der Dunkelheit durch den Garten oder über die Mauern entflohen war, so lebte er mit ihnen unter einem Dach.

12. Kapitel
    Philippa fand keine Gelegenheit, lange über die Ereignisse der vergangenen Nacht nachzugrübeln. Am nächsten Morgen überbrachte ihr Lupian die eindringliche Aufforderung ihres Onkels, unverzüglich mit dem Unterricht der Wittenberger Mädchen zu beginnen.
    Erleichtert atmete sie auf. Die Strafpredigt, die ihr Katharina beim Frühstück in der Küche gehalten hatte, war recht glimpflich ausgefallen. Der Lutherin gingen offensichtlich im Augenblick weitaus wichtigere Dinge durch den Kopf als die Zurechtweisung einer widerspenstigen Verwandten.
    Lupians Andeutungen war zu entnehmen, daß kaum jemand Luther wegen der bevorstehenden Reise zum Bundestreffen in den nächsten Tagen zu Gesicht bekommen würde. Philippa mußte folglich allein mit der ihr anvertrauten Aufgabe zurechtkommen. Sie bemühte sich um eine reuevolle Miene und trug dem Sekretär auf, dem Herrn des Hauses ihre besten Wünsche zu übermitteln. Insgeheim mußte sie jedoch zugeben, daß es ihr nicht unlieb war, dem gestrengen Onkel bis auf weiteres nicht zu begegnen.
    Die ersten Unterrichtsstunden, die Philippa in der Schulstube abhielt, nahmen sie ganz in Beschlag. An die dreißig Mädchen drängten sich hinter den Pulten, kleine und größere Kinder; die meisten trugen ärmliche, geflickte Kleider.
    Als Philippa die Augen der Mädchen erwartungsvoll auf sich gerichtet sah, schnürte es ihr für einen Moment die Kehle zu. Unsicher schob sie die gespitzten Kiele, die frisch beschichteten Wachstafeln und den Abakus von einer Ecke ihres Katheders in die andere. Ihre Schülerinnen werteten ihr Verhalten als Zeichen, sich lautlos zu erheben und

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