Die Magistra
durch die Kirchenfenster sandte und die vor Schweiß glänzenden Haare des Predigers in ein sanftes Licht tauchte, nahmen viele der Andächtigen dies als göttliches Zeichen. Einige Frauen fielen mit gefalteten Händen auf die Knie, ihre Köpfe berührten die kalten Steinplatten.
»Erhebt Euch!« rief Luther dröhnend von der Kanzel herab. »Widersteht dem Gift der Schwärmer, die uns mit ihrer Lehre täuschen wollen! In diesen unruhigen Zeiten ist ein kühler Kopf gefragt. Eure einzige Hilfe gegen die Sünde halte ich hier in meiner Hand!« Er schwenkte seine in Leder gebundene Bibel über die Köpfe der noch immer knienden Weiber, was der Menge erneut ein ehrfürchtiges Raunen abverlangte.
Luther seufzte resigniert. »Ihr seid wie Schafe, die ihren Hirten suchen. Wie lange hat man Euch eingeredet, Ihr könntet zur ewigen Seligkeit finden, indem Ihr Euer Vertrauen in heiligen Tand setzt, Prozessionen durchführt und Reliquien huldigt, ohne Euch der Gnade des Glaubens anzuvertrauen. Ich sage Euch, all dies nützt nichts, wenn Ihr den Glauben und die Gnade ausschlagt, die Euer Herr Euch anbietet. Eure Hoffnung ist das Evangelium durch die Predigt von der Vergebung, Taufe, Abendmahl, Schlüsselamt und brüderliche Tröstung, nicht aber Figuren von Heiligen, die Euch mit toten Augen anstarren!«
Nach dem Gottesdienst gab Philippa ihren Schülerinnen zwei Stunden frei und wies die älteren Mädchen an, die jüngeren nach Hause zu begleiten. Lachend machten sich die Kinder auf den Weg zum Marktplatz, froh, nach der anstrengenden Andacht wieder umherlaufen und reden zu dürfen. Philippa konnte es ihnen nicht verdenken. Den Nachmittag würden sie mit Buchstabieren, Rechenübungen und einfachen lateinischen Begriffen aus der Geschichte der Heiligen Schrift verbringen. Eigentlich hatte Philippa im Sinn gehabt, die Älteren Tiernamen übersetzen zu lassen, doch Melanchthon hatte sie angewiesen, die Kinder aus dem Neuen Testament zu unterrichten, und außer Fischen, Kamelen und Schweinen fielen ihr selbst keine biblischen Tiere ein.
An den offenen Werkstätten des Hofmalers Cranach vorbei ging Philippa zum Kirchplatz, wo sich das Spital der Stadt befand. Katharinas Köchin hatte ihr den Weg von der Schloßkirche zum Pfründnerhaus genau beschrieben, dennoch brauchte sie eine geraume Zeit, bis sie endlich vor dem breiten Tor des Anwesens stand. Das Gebäude wies zur Straße lediglich schmale Schlitze als Fensteröffnungen auf. Ein weiß getünchter Anbau diente vermutlich den Bediensteten als Wohnung und Wirtschaftshaus, denn aus dieser Richtung erklang deutlich das Gackern von Hühnern. Nur wenige Meter hinter dem Spital begann sich der morastige Baugrund bis zur Stadtmauer auszudehnen.
Philippa betätigte einen Klingelstrang, worauf ein vergittertes Fenster in der Tür aufgestoßen wurde und eine alte Frau mit wirrem weißem Haar mißtrauisch ihren Kopf herausstreckte.
»Was sucht Ihr hier?« Die Frau musterte Philippa abschätzig von Kopf bis Fuß. Ihre ordentliche Kleidung und ihr sittsamer Schleier aus gutem Tuch schienen sie zu verwirren.
»Seid Ihr die Spitalmeisterin? Meine Tante hat vor wenigen Tagen ein Neugeborenes in Eure Obhut gegeben. Ich wollte mich nur davon überzeugen, daß es dem Kind auch an nichts fehlt.«
Mit einem scharfen Geräusch schob die Pförtnerin den Riegel zurück und machte, als Philippa durch den Türspalt schlüpfte, schwerfällig einen Schritt zur Seite. In ihrer linken Hand hielt sie eine Krücke. »Ich bin nur Gerte die Siechenmagd, Kindchen«, schnarrte die Frau. »Lebe hier unter dem Dach des Pfründnerhauses seit …« Sie sprach nicht weiter. Statt dessen lüpfte sie mit einer Hand ihr Kleid und lächelte Philippa ohne eine Spur von Verlegenheit an. Philippa riß erschrocken die Augen auf.
Der Siechenmagd fehlte das linke Bein. Ihr Knie endete in einem wulstigen Stumpf aus bläßlichen Narben und blau geäderten Verwachsungen. Der Wundarzt, der die Frau einst behandelt hatte, mußte betrunken gewesen sein. Selbst ein Scharfrichter verstand es besser, Gliedmaßen vom Körper zu trennen.
Schnaufend führte die Alte Philippa durch einige Stuben, deren Einrichtung lediglich aus einigen tönernen Wasserbecken und Strohsäcken bestand, in die Kammer der Spitalmeisterin. Hinter einem Tisch mit einer Waage und einigen Arzneiflaschen saß eine rotgesichtige Frau von etwa vierzig Jahren und schnitt lange Tücher aus Leinen in schmale Streifen. Um ihren Bauch spannte sich eine schmutzige
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