Die Magistra
des Pfades stand eine kleine Kapelle, in der die Mönche zu früheren Zeiten ihre Toten aufgebahrt hatten. Der Eidgraf war nicht mehr zu sehen, demnach mußte er in dem verfallenen Gebäude verschwunden sein. Aber zu welchem Zweck? Fand hier ein geheimes Treffen statt?
Trotz ihrer wachsenden Unruhe ging Philippa weiter auf die Kapelle zu. Irgendwie erinnerte diese dunkle Kapelle sie an das Gotteshaus ihres Heimatdorfes, nicht einmal der Turm aus Sandstein und die Pestglocke fehlten. Doch in diesen Turm waren Breschen geschlagen, wie nach einem Angriff mit Sturmkatapulten oder Kanonen, und seine Mauern waren mit Ruß überzogen, wie sie feststellte, als ihre Hand über das grobe Mauerwerk glitt. Hier hatte einmal ein Feuer gewütet. Das Tor der Kapelle war geborsten; ein schmaler, wenig einladender Eingang führte ins Innere, aus dem ihr Nebel entgegenwaberte.
Mit vorsichtigen Bewegungen schlich Philippa durch den Vorraum und wäre beinahe über die Reste eines Weihwasserbeckens gestolpert. Dann verharrte sie. Noch immer stieg ihr unheimlicher Nebel entgegen.
Keine zehn Schritte vor ihr stand ein Käfig, der so groß war, daß ein ausgewachsener Mann darin Platz gefunden hätte. Das blanke Eisen schien sie höhnisch anzugrinsen, und plötzlich fühlte sie, wie sich zwei schwere Hände auf ihre Schultern legten und sie unaufhaltsam auf die offene Tür des riesigen Käfigs zuschoben. Sie versuchte zu schreien, aber kein Laut drang über ihre Lippen. Die alten, verwitterten Grabsteine der Mönche hatten sie gewarnt, doch sie hatte die Warnung nicht hören wollen.
Irgendwo im Hintergrund ertönte das schrille Lachen einer Frau, das Philippa an ihre Schwägerin Abekke erinnerte. Doch Abekke konnte unmöglich hier sein, um sie gefangenzunehmen.
Die schweren Händen drängten sie in den Käfig und schlugen die Tür zu. Aus dem Nebel stieg eine Gestalt, aber es war nicht der Eidgraf, sondern ein Schmied. Er holte mit seinem Hammer aus und ließ ihn auf den eisernen Bolzen der eisernen Tür fallen.
Philippa schrie verzweifelt auf, flehte den Mann an, sie nicht einzusperren. Doch er hörte nicht auf sie. Immer wieder schlug er mit seinem unförmigen Hammer zu.
***
Mit einem Schrei bäumte sich Philippa auf; ihre Hände hatten sich in das Laken gekrallt. Im ersten Augenblick fiel es ihr schwer, ihre Kammer wiederzuerkennen. War sie nicht gerade eben noch in einem Eisenkäfig eingeschlossen worden? Und wohin war der sonderbare Wolfger verschwunden?
Benommen stand sie auf und ging zum Fenster hinüber, dessen Holzladen im Wind gegen den Rahmen schlug. Als sie den Kopf herausstreckte, sah sie, daß es in Strömen regnete. Dicke Tropfen prasselten über das Vordach des ehemaligen Kreuzgangs auf die Planen aus Ziegenleder, welche die Baugerüste des Südflügels abdeckten.
Philippa schloß das Fenster und lauschte. Die dröhnenden Schläge, die sie im Alptraum vernommen hatte, waren nicht vom Sturm verursacht worden, sondern waren eindeutig aus dem unteren Geschoß des Hauses heraufgedrungen. Irgend jemand mußte aus Leibeskräften gegen das Portal am Haupteingang gehämmert haben.
Auf dem Korridor stieß Philippa beinahe mit Roswitha zusammen. »Was um Himmels willen hat dieser Radau zu bedeuten?« Die Amme rieb sich schlaftrunken die Augen. Philippa zuckte mit den Schultern, aber es war ihr sehr recht, daß Roswitha sie die Treppen hinab begleitete.
Vor dem Portal trafen die beiden Frauen auf Katharina und Valentin Schuhbrügg. Valentin stand auf einem Schemel und war damit beschäftigt, sich an der Eichentür zu schaffen zu machen, während die Lutherin ihren Arm weit ausstreckte, um ihm mit einer Lampe Licht zu spenden. Die dumpfen Geräusche hatten sie wohl gleichfalls aus dem Schlaf gerissen. Sie trug ein grobes Nachthemd aus gebleichter Wolle, und ihre langen, braunen Haare fielen ihr offen über die vor Kälte bebenden Schultern. Von einem späten Gast, der gegen das Tor gepocht haben könnte, war nichts mehr zu sehen.
Als Philippa zu ihrer Tante trat, sah sie ein Papier am Tor, eng beschrieben und mit zahlreichen Flecken übersät, die im Schein des Talglichts wie Blutspuren aussahen.
»Heilige Anna, steh uns bei«, murmelte Roswitha und bekreuzigte sich, »da sind blutige Abdrücke von Fingern auf dem Papier. Man sieht's ganz deutlich. Welcher Dämon der Hölle kann das gewesen sein?«
»Dämonen benutzen keine Nägel«, antwortete Philippa mit einem Seitenblick auf ihre Tante. Endlich löste der Hausknecht
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