Die Maikaefer
Aber warum sollte ausgerechnet Tante Kläre mir helfen können, einen Schrecken zu erfinden, der größer wäre als jener meiner einsamen Nächte? So traurig und hilflos, wie sie da am Bettrand saß, war das doch sehr unwahrscheinlich.
»Das ist der Krieg, der das alles macht«, sagte sie schließlich. »Seinetwegen muss Papa immer weg und hat nur diese wenigen Stunden zu Hause. Wenn der Krieg vorbei ist, wird alles anders.«
Ich wusste, dass Krieg war und dass dieser Begriff etwas mit Schlachten, Panzern und Soldaten zu tun hatte. Aber letztlich war es nur ein Wort für mich, nichts, was tiefer in mein Leben eingedrungen wäre. Selbst die Flugzeuge, die manchmal kleine Teile des Himmels punktierten oder mit Streifen durchpflügten, waren fern und nahmen ihr Grollen stets mit, wenn sie verschwanden. Und nun sollte sich der Krieg in etwas verwandelt haben, das in meinem Vater steckte und mit ihm unser Haus betrat? Ein unsichtbarer Feind, der mir Angst machte und dem ich mit keinem Schrecken drohen konnte?
Zu den harten Fakten, die Erwachsenen nichts bedeuten, bei Kindern aber ein Drama auslösen, gehörte, dass mir meine Mutter eines Tages nicht mehr die Geschichten vom kleinen Prinzen erzählen wollte. Meine zwei Jahre jüngere Schwester Dagi hatte rebelliert.
Als sie geboren wurde, hatte ich die allergrößte Mühe, einen Wortschatz von neunhundert Wörtern um hundert zu erweitern, war schon trocken und trat gerade in die Phase ein, in der sich Gefühle von Liebe und Hass entwickeln. Ich sagte »Ich« und zeichnete Kanistermännchen mit einem viereckigen Bauch. Die Männchen wurden von meiner Mutter in den höchsten Tönen gelobt, aber als Dagi plärrend auftauchte und gleich die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog, waren meine Kanistermännchen keinen Blick mehr wert. Sehr bald danach wurde mir das Baby mit dem Auftrag ins Zimmer gestellt, aufzupassen, dass es nicht an die Steckdose ging.
Jetzt war es groß genug zu verhindern, dass ich mit unserer Mutter abends eine halbe Stunde für mich alleine hatte. Doppelt ausgeschlossen fühlte sie sich, weil die Geschichten vom kleinen Prinzen ein Geheimnis waren, von dem niemand, insbesondere nicht mein Vater, wissen durfte; auch nicht, wie wir das Buch bekommen hatten. Dagi spürte natürlich, dass in dieser halben Stunde etwas ganz Außergewöhnliches vor sich ging, und ließ nicht locker, an der Tür zu kratzen und zu stören.
Erst auf meinen anhaltenden Protest hin fand sich eine Lösung, an die ich mich nach und nach gewöhnte: Tante Kläre wurde ins Vertrauen gezogen, sie übernahm Mutters Rolle und erklärte mir abends vor dem Schlafengehen, was in dem Buch stand.
Ganz wunderbar fand ich, dass meine Schwester von dem Buch, den Geschichten und den Zeichnungen darin nichts wissen durfte. Sie durfte gar nicht dabei sein, wenn ich mit meiner Mutter oder Tante Kläre über den kleinen Prinzen redete, weil sie alles nachplapperte und sich das Geheimnis schnell in die neueste Nachricht verwandelt hätte. Mein Vater, die Schattners und alle sonst würden davon erfahren haben. Überhaupt war sie wie mein Schatten, und was ich bis dahin mit einiger Mühe als meine Einzigartigkeit gerettet hatte, war bereits den Bach hinuntergegangen. Denn sie wollte all das haben, was mir gehörte. Nahm ich etwas in die Hand, versuchte sie, es mir zu entreißen. Wollte ich auf Mamas Schoß, wollte sie auch und unterstrich es mit enervierendem Geplärre. »Die kleine Süße«, wie Tante Kläre sie immer nannte, förderte nicht meine Bereitschaft zu schenken, sondern meinen Unwillen zu teilen. Ich versuchte, diese Situation umzukehren, und bestand eines Tages darauf, auch wieder an der Mutterbrust zu saugen, machte ins Bett und verlangte Windeln.
Schon dem Baby hatte ich mit allerlei Beschimpfungen gezeigt, dass es unerwünscht war. Sobald Dagi sprechen konnte, ging ich mit ihr die verschiedenen Formen des Ablebens durch und hoffte, sie würde nicht nur eine finden, die sie bevorzugte, sondern sie auch in die Tat umsetzen. Ich zwickte die Kleine, schlug sie, zog sie an den Haaren, schubste sie heimtückisch oder brachte sie sonst wie zu Fall.
Ich hatte genügend Gelegenheiten dazu, denn meine Mutter hatte mir schon früh einen Teil ihrer Erziehungsaufgaben überantwortet. Wollte sie schwimmen gehen, wohin sie mich früher mitgenommen hatte, gab sie nun die »süße Kleine« in meine Obhut. Hängte sie Wäsche auf, gab sie die Kleine mir, weil der Ganter die »Lütte« im Hof nicht
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