Die Maikaefer
beschränkte, einfach nur zu fragen »Und dann?«
Sie lächelte und führ in ihrer lieblichen, weichen, fast säuselnden Stimme fort: »Ja, als die Germanen weg waren, gab es hier gar keine Menschen, aber allmählich rückten aus dem Osten westslawische Jäger, Fischer und Bauern ein. Sie bauten ihre Siedlungen in der Nähe des Meeres, weswegen sie auch Pomoranen genannt wurden. Pomorje kommt aus dem Slawischen und heißt Land am Meer.«
»Und dann?«
»Und dann sprachen sie pomoranisch miteinander.« Durch meine Augenschlitze konnte ich sehen, dass sie das Gespräch amüsierte.
»Was haben sie gesagt?«
Sie konnte die Sprache der Pomoranen oder Wenden imitieren, jedenfalls tat sie so. Es war so lustig, dass ich wieder munter wurde, um es auch zu versuchen. Sie sagte, diese Wörter hätten sich durch die Vermischung mit den deutschen Dialekten erhalten, wie Grenze, Schmetterling, Peitsche,Jauche, Tollpatsch oder Lulatsch. Die beiden letzten gefielen mir besonders, weil ich Tollpatsche und Lulatsche sofort mochte, nachdem sie sie mir beschrieben hatte. Da man bei meinem Vater immer alles wissen musste, brachte ich meine neuen Kenntnisse bei seinem nächsten Besuch sofort an, doch es trieb mir fast Tränen in die Augen, dass er Tante Kläre und Tante Lieschen immer niedermachte, sofern sich ihm nur die kleinste Gelegenheit dazu bot. Hier behauptete er, Tollpatsch komme definitiv aus dem Ungarischen, was keine slawische Sprache sei, und Lulatsch könne auch ebenso gut jiddisch sein. Ich glaubte Tante Lieschen und nicht ihm und fand es sogar wunderbar, dass alle Worte mit »atsch« oder »iest« am Ende aus dem Wendischen kämen, also Worte der Ureinwohner wären.
»Dann bin ich ja auch ein Ureinwohner!«, rief ich erfreut.
»So könnte man sagen. Immerhin hat dein Großvater deinem Vater einen Stammbaum überreicht, der bis auf die Wenden zurückgeht.«
Ich fand das aufregend, aber sie meinte, so toll sei das gar nicht, denn die Slawen seien heute in Ungnade gefallen.
»Was heißt das?«
»Die Nationalsozialisten mögen nur Germanen. Keine Slawen.«
»Warum mögen sie uns nicht?«
»Weil sie sich selbst nicht mögen. Wahrscheinlich messen sich Hitler und Goebbels an ihren eigenen arischen Gesetzen, wenn sie sich abends vor den Spiegel stellen und sich als Schandfleck erkennen. Was jeder Arier bestätigen wird.«
»Was ist ein Arier?«
»Ursprünglich heißt es edel. Das sollen die Germanen sein, wenn sie blond, schlank, hochgewachsen sind und blaue Augen haben. Der Arier ist ein reinrassiger Abkömmling der Kimbern und Teutonen.«
»Wer sind die?«
»Nordische Urstämme.«
»Das sind wir nicht?«
»Das ist alles Unfug. Aber dennoch gibt es den Beschluss, dass die Slawen hier weg müssen. Sie sollen nach Polen oder sonst wo in den Osten umquartiert werden.«
»Aber dann gibt es hier ja keine Leute mehr.«
»Ein paar können noch hier bleiben, denn die Familie deiner Mutter zum Beispiel stammt nicht von den Westslawen ab.«
Als ich Tante Lieschen später noch ein paar Mal auf den »westslawischen« Ursprung meines Vaters ansprach, streichelte sie mir lächelnd über das Haar und sagte, sie habe nur einen Scherz gemacht, weil es Leute gebe, die sich in solche ethnologischen Unsinnigkeiten hineinsteigerten, aber so etwas stifte nur Verwirrung. »Kein Mensch kann sagen, woher all die Menschen kommen, die heute in Deutschland leben«, und sie fügte hinzu: »Und es wäre auch völlig egal.«
Das war es aber nicht, denn mein Vater regte sich ungeheuer darüber auf, dass Tante Lieschen, die er plötzlich Tante Luschen nannte, »diesen Blödsinn mit der iest-Endung« aus dem Wendischen erfunden habe. Der Name unserer Familie komme letzten Endes aus dem Holländischen, seine Vorfahren hätten also weit entfernt von den Slawen gelebt. Er verbot Tante Lieschen daraufhin, mir bei meinen Besuchen weitere geschichtliche Lektionen zu erteilen.
Tante Lieschen kümmerte sich aber nicht darum, sondern erzählte mir abends am Bett weiterhin von den heidnischen Wenden, oder genauer gesagt, dem Stamm der Pomoranen, die 1130 von einem süddeutschen Bischof zum Christentum bekehrt worden waren. Mit einem schwer bewaffneten Tross war er aus Bamberg hier angerückt, hatte vierzehn Kirchen gegründet und etliche Klöster, deren Mönche sofort anfingen, das Land urbar zu machen. Ich fand diese Möglichkeit, leeres Land zu besetzen, zu besiedeln und urbar zu machen, aufregend und stellte mir gerne vor, dass ich einer dieser
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