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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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aufregend, denn in Naugard hätte meine Mutter mir den Groschen abgeknöpft und in die Familienkasse gesteckt.
    Diese kleinen Unterschiede versüßten mir die Aufenthalte in Gollnow. Außerdem gab es nicht das Gezeter Dagis, und ich genoss die Stille und Friedlichkeit, die Tante Lieschen stets umgaben. Sicher hing meine Liebe auch mit der Freiheit zusammen, die sie mir in die Seele zu zaubern verstand. Was immer ich tat oder unterließ, stets gab sie mir das Gefühl, alles läge in meinen Händen. Nichts war zu tun, was ich nicht wollte, alles war erlaubt, wonach mir der Sinn stand. Selbst unsere Spaziergänge schienen auf meiner täglich neuen Entscheidung zu beruhen, Tante Lieschen zu begleiten, denn bevor wir uns auf den Weg machten, fragte sie mich jedes Mal, ob ich Lust darauf hätte. Dabei betonte sie ihre Frage so, als wäre es das erste Mal, dass sie die Idee mit dem Spaziergang hätte. Und niemals wiederholte ich meine Antwort vom Vortag, immer fand ich neue Worte für mein Ja.
    Auch liebte ich jede ihrer Bewegungen. Gespannt beobachtete ich, wie sie einen Apfel schälte, die Temperatur des Wassers prüfte oder sich ein schwarzes Schultertuch umwarf, das sie mit einer silbernen Spange zusammensteckte. Auf unseren Spaziergängen hielt sie in der rechten Hand ihren Krückstock, mit dem sie auf alles Mögliche zeigte – Blumen, Bäume, Tiere – und mir davon erzählte. Etwa vom Winterschicksal der Schwäne auf der Ihna, vom Löwenzahn am Rande des Weges oder die Geschichte der großen Rotbuche. Sie tat das auf eine so poetische Weise, als hätten all diese Geschöpfe von Gottes Gnaden sich ihr kürzlich anvertraut. Und so heiter, als gäbe es kein Unglück und keinen Schmerz auf der Welt. Dabei lernte ich die Namen verschiedener Gräser, Bäume und Pflanzen, aber es war nicht ihre Absicht, mir all dies als Wissen beizubringen. Weder war sie belehrend noch war sie wie meine Mutter, die Namen für die Dinge brauchte, damit sie in ihrem Alltag Platz fanden. Und auch nicht wie mein Vater, der die Dinge aufrief, damit sie sich in ein Ordnungssystem einfügten. In das von Linné beispielsweise, wenn es um Pflanzen ging. Tante Lieschens Stimme entsprang ihrem Herzen und endete in meinem.
    Ich habe sie nie gefragt, warum sie allein lebte, auch nie, ob sie verheiratet gewesen war, denn der Gedanke an andere Menschen, die ihr nahe gewesen sein könnten oder noch nah wären, hätte mein Paradies nur gestört. Abends saß sie immer an meinem Bett, beantwortete meine Fragen und ließ sich manchmal von ihrer Begeisterung für geschichtliche Dinge mitreißen. Sie besaß ein erstaunliches Gedächtnis und erzählte mir gerne aus der Vergangenheit unserer Heimat. Es schien ihr wichtig, dass ich zumindest ein wenig davon begriff, an welchem Punkt der Geschichte wir standen.
     
    Ihrer Meinung nach gab es hier schon vor zwölftausend Jahren Menschen, was ich ganz seltsam fand, denn ich hatte mir vorgestellt, dass es hier immer Menschen gegeben hätte.
    »Nein«, widersprach sie, »die meiste Zeit gab es nichts auf der Erde, dann kamen die Pflanzen und sehr viel später die Tiere und als Letztes die Menschen. Wenn du die Geschichte der Erde betrachtest, sind wir erst seit kurzem hier. Dennoch sind zwölftausend Jahre eine riesige Zeitspanne, und damit du dir das ungefähr vorstellen kannst: Es ist so lange, wie zwei Komma vier Millionen Menschen brauchen, um einer nach dem anderen geboren zu werden und zu sterben.« Sie lachte, weil ich es so noch weniger verstand, und als ich nachfragte, weigerte sie sich, immer noch lachend, mir das zu erklären. »Dann erzähl ich dir lieber von den Germanen, die früher hier wohnten.«
    »Warum wohnen die jetzt nicht mehr hier?«
    »Sie sind nach Süden gezogen, weil es ihnen hier zu kalt wurde.«
    »So kalt ist es im Winter doch gar nicht«, sagte ich, weil ich selten fror. Das hatte auch seinen Grund darin, dass mein Vater Frieren nicht duldete. Sobald Dagi oder ich auch nur das geringste Zittern oder Bibbern andeuteten, verlangte er, dass wir uns etwas Wärmeres anzögen, und kam immer mit demselben harschen Spruch: Wer friert, ist entweder arm oder dumm!
    »Die Winter waren früher sehr viel kälter als heute«, sagte Tante Lieschen.
    Die Winter damals kälter – wie konnte das sein? Ich merkte, dass die Dinge nicht einfacher wurden, wenn ich mehr nachfragte, sondern komplizierter, und die Anstrengung, es dennoch zu begreifen, machte mich jedes Mal schnell müde, so dass ich mich darauf

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