Die Maikaefer
nimmt uns die Leute! Und also ruht der
Pflug, das Land bleibt unbestellt – kann wohl was Übleres sein auf dieser Welt?«
Das war nicht schön, und ich wurde immer trauriger. Wo würden meine Kaninchen bleiben, besonders mein Lieblingskaninchen Blanche?
Sie fühlte meine Besorgnis, legte den Arm um mich und zog das Fotoalbum heran. Manchmal, wenn ich traurig war, schauten wir zusammen Fotos an, und ihre kleinen Geschichten dazu heiterten mich schnell auf. Auf einem Bild, das ich besonders mochte, saß ich in einer Kinderkarre, die neben dem Klavier stand, an dem meine Mutter fröhlich sang und spielte. Dann ich auf den Armen meiner Mutter, umgeben von Tante Kläre und Tante Lieschen, die mir beide lächelnd in die Wange zwickten. Auf der nächsten Seite das Bild mit Onkel Hugo, dem Bruder meines Vaters, in Uniform und Schiffchenmütze. Er kniete neben mir und versuchte mich zu beruhigen, während ich mich ängstlich an einem Stuhlbein festhielt. Auch Bilder aus Gollnow gab es: Mal spuckte ich von der Brücke, mal saß ich in der Kinderkarre, die Tante Lieschen schob. Auf einem weiteren Foto, das Onkel Hugo gemacht hatte, beugte sie sich zur mir herunter, um mich mit einer Klapper von der Gefängnismauer abzulenken, die mich offensichtlich zu Tränen rührte.
Jedes Mal fragte ich: »Warum weine ich?«, und jedes Mal gab sie die gleiche Antwort: »Die Mauer hat dir Angst gemacht.«
»Sind da Geister dahinter?«
Dann lachte sie und sagte: »Da sind Menschen dahinter, die von ihrem eigenen Geist gequält werden.«
Wenn wir alle Bilder gesehen hatten, zeigte sie mir manchmal Buchstaben. Wenn ich wollte, machte sie mich auch mit Worten, ja ganzen Sätzen vertraut, weil sie selbst manche Tage damit verbrachte zu lesen oder Briefe zu schreiben und in alle Welt zu schicken. Sogar nach Japan, wie sie mir an einem unserer nächsten Abende erzählte.
»Wo ist Japan?«
Sie zeigte es mir auf einem Globus, einer runden Kugel, auf der alle Länder aufgemalt waren. »Hier ist Japan«, sagte sie. »Schau mal – auf der anderen Seite der Welt. Und dort liest meine japanische Freundin sich laut vor, was ich schreibe.«
»Was schreibst du denn?«
»Dass Krieg schlecht ist. Weil sie mir geschrieben hat, dass Japan in den Krieg eintreten will.«
»Gegen uns?«
»Nein, mit uns. Die Japaner finden ihre Insel zu klein. Sie haben nicht genug Essen dort. Meine Freundin schreibt, das Volk werde verhungern, wenn sie sich nicht zusätzliche Länder erobern.« Sie zeigte wieder auf den Globus. »Das haben sie schon 1931 mit der Mandschurei gemacht.«
»Haben sie gewonnen?«
»Erst einmal ja. Sie haben auch versucht, Korea in Japan zu verwandeln. Korea – das liegt hier. Und sie haben China angegriffen und nun Russland.«
»Dann können sie ja auch Frankreich angreifen«, sagte ich, um ihr zu zeigen, dass ich auch etwas vom Krieg verstand. Papa hatte mir nicht nur das Buch geschenkt, sondern mir auch die Sachen darin erklärt. Sie aber hatte sich inzwischen an den kleinen Schreibtisch gesetzt und ein Blatt aus der Schublade genommen.
»An wen schreibst du denn jetzt?«, fragte ich.
»Weißt du, viele Freunde von mir wurden aus Gollnow weggeschickt oder sind selbst weggegangen. Ich kann nur bei ihnen sein, wenn ich ihnen Briefe schreibe. So unterhalte ich mich mit ihnen. Sie können es dann laut lesen und sich dabei meine Stimme vorstellen.«
Im Laufe der nächsten Zeit fiel mir auf, dass uns immer weniger Menschen auf den Spaziergängen begegneten, immer weniger Frauen Bettzeug heraushängten oder in den Gärten arbeiteten. Die Stadt wurde immer stiller, und ich habe nur noch das Rauschen der Ihna in Erinnerung, den Lärm der Spatzen in den Fliederbüschen und die leise Stimme Tante Lieschens. Eines Tages war es so still, als wären nur wir noch da.
Als mein Vater abgereist war, konnte ich wieder zurück nach Hause. Natürlich sagte Tante Lieschen zu mir nicht: Dein Vater ist jetzt weg, ich bringe dich nach Naugard, sondern sie erinnerte mich an die Maikäfer, die jedes Jahr um diese Zeit in dichten Schwärmen zwischen den Kastanienbäumen vor unserem Haus herumflogen. Das wollte ich nicht verpassen, denn jedes Jahr sammelte ich sie, steckte sie in meine Zigarrenkiste, die ich dafür aufhob, und tauschte sie mit anderen Kindern. Die Kiste hatte Löcher im Deckel, und innen legte ich sie mit frischen Kastanienblättern aus. Als Tante Lieschen sagte, in Naugard sei schon Maikäferzeit, spürte ich unmittelbar das Gekrabbel,
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