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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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Gehweg nah am Bordstein und staunte. Das Flugzeug hatte den Himmel in die Straße gebracht, und vor mir auf der Fahrbahn spritzten im Takt einer Nähmaschine Asphalt und Erde auf. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass Steine und Sand von den Einschusslöchern herrührten, die das Bord-MG in den Straßenbelag hackte. Der militärische Auftrag war, die Bevölkerung in den Straßen zu erledigen.
    Mir wurde klar, wie hoch gefährlich die Situation war und dass ich keine Zeit mehr verlieren durfte, mich in die schützenden Arme meiner Mutters zu retten. Doch gerade, als ich den ersten Schritt tat, zeigte ihr Arm wieder in die Höhe, ich wandte Kopf und sah einen weiteren Sturzkampfflieger herunter kommen. Ich wollte noch vor ihm die Straße überqueren, aber das Kreischen des Sturzes lähmte mich. Im nächsten Moment war die Maschine heran, sauste durch die Häuserreihe und spuckte ihre Kugeln knatternd vor mir aus. Danach Ruhe. Wie durch ein Wunder war es plötzlich so still, und ich hörte die Stimme meiner Mutter: »Zurück in den Hauseingang!«
    Sie glaubte, ich wäre zu langsam oder zu ungeschickt, die Straße zwischen den einzelnen Stuka-Angriffen zu überwinden, zu klein oder zu dämlich. Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen, doch da kam schon der nächste, den ich doch lieber noch abwartete. Danach rannte ich los und ihr in die Arme. Hinter mir mähte bereits ein weiterer die Straße ab.
    Geschafft! Ich strahlte sie an, und sie strahlte zurück, ihre Augen leuchteten, sie legte ihre Arme um mich und zog mich fest an sich. So fest, dass ich mein Gesicht ganz zur Seite wenden musste und Dagi bemerkte. Sie stand neben meiner Mutter und schaute mich ernst und böse an. Ich streckte ihr die Zunge heraus, was sie sofort mit lautem Geplärre beantwortete.
    Meine Mutter schob mich zurück und bestimmte streng, dass es nach diesem Angriff weitergehe und ich nah bei ihr zu bleiben habe.
    Ich gehorchte. Es war ein anstrengender Marsch, und wir brauchten zwei Stunden bis zur Reichsstraße Richtung Nordosten. Oft waren Straßen zugeschüttet, und wir mussten umkehren, viele Häuser brannten, Verletzte und Tote lagen am Straßenrand, und manchmal war der Qualm so stark, dass wir uns Taschentücher vor das Gesicht hielten. Schließlich erreichten wir die Reichsstraße. Sie war voller Fahrzeuge, flüchtender Menschen mit Handkarren, Pferdewagen oder Fahrrädern. Kolonnen von Infanteristen marschierten singend an uns vorbei, gefolgt von Militärlastern, übervoll mit Soldaten und Zivilisten, sodass kein weiterer auf ihnen Platz gefunden hätte.
    »Wir müssen da rauf, egal wie«, sagte meine Mutter entschlossen. »Ich schaffe das nicht mit euch beiden in diesem Chaos und Gewühl, das ist zu gefährlich.«
    Ich bin sicher, dass sie nicht einen Moment auf unserer apokalyptischen Wanderung durch die Stadt daran zweifelte, dass wir das Richtige taten und dass alles in einem lukullischen Mahl oder einer lustvollen Umarmung enden würde. Alles Hemmende waren ihr nicht Hindernisse, sondern sinnliche Vorspiele, die sie mit Freude erfüllten.
    Die Lastwagen mussten wegen der vielen Infanteristen und Fußgänger im Schritt fahren, und als der nächste kam, nahm meine Mutter den Koffer und warf ihn hinauf. Sie lachte über die verdutzten Gesichter. Arme streckten sich in die Höhe, der Koffer verschwand. Dann bückte sie sich, packte Dagi und warf sie ebenso wie den Koffer auf den Wagen, was aber beinah misslang, weil sie zugleich nebenher laufen musste.
    Ich war bei ihr, sie sagte, ich solle neben dem Wagen bleiben, sie werde mich heraufziehen. Im nächsten Moment hielt sie die Arme hoch und ein kräftiger Soldat, mit dem sie schon vorher angebändelt hatte, packte ihre Handgelenke. Ich sah noch ihre Beine zappeln und dachte: Das war’s. Doch mein Vertrauen kam gleich zurück. Ich streckte die Arme in die Höhe und lief mit großen Schritten neben dem Wagen her. Derselbe Mann, der meiner Mutter geholfen hatte, zog mich hinauf. Da kaum Platz war, wurde ich gegen das Seitenteil des Lasters gedrückt und glaubte einen Moment, meine Rippen würden zerbrechen.
    »Geht es so?«, fragte meine Mutter.
    »Jawoll!«, brüllte ich. Dann wurde mir schlecht, aber allmählich gewöhnte ich mich an die Enge.
    Während wir langsam die mit Bäumen bestandene Allee entlang ruckelten, gewährte mir mein Stehplatz einen langen Blick auf die von einem Feuersturm gegeißelte Stadt. Durch die ausgedehnten Bombardements während der letzten zwei

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