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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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Himmel. Kurz daraufkam die Entwarnung.
    Wir gingen gleich in die Wohnung hinauf, und Tante Kläre sagte: »Ich glaube, das Radio hat’s nicht überlebt.« Onkel Otto ging sofort hin und schaltete es ein. »Es funktioniert doch«, knurrte er in seiner groben Art.
    Es kam die Aufforderung, die Stadt bis morgen um zehn zu räumen, weil weitere schwere Luftangriffe erwartet würden.
    Ich war von Anfang an gegen die Reise nach Stettin gewesen, aber meine Mutter wollte das nicht hören und sagte: »Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre.« Mir fehlten in der Stadt die Weite der Felder, die Geräusche und Gerüche, die im Herbst so anders waren als im Sommer oder Frühjahr. Mir fehlte auch Paul, mit dem ich immer mehr Zeit verbracht hatte und der mir vor unserer Abreise sogar beim Saubermachen der Kaninchenställe geholfen hatte.
    Natürlich freute mich der Radiobefehl, denn das hieß, dass wir »abrücken« mussten und morgen in Naugard wären, wo ich Paul sogleich befragen würde, ob die Kaninchen gut gefressen hätten. Tante Kläre aber würde nicht mit uns fahren, sie hatte sich entschieden, mit Onkel Otto und Tante Eva Richtung Westen abzureisen. »Vielleicht solltest du dir mal die Geschichten von den Flüchtlingen aus Ostpreußen anhören«, sagte sie mahnend zu meiner Mutter. »Dann würdest du mit den Kindern nicht zurückgehen.« Meine Mutter tat das mit einem »Ach was« ab, und damit stand für uns die Richtung fest.
    Sie packte mich und Dagi in dasselbe Bett und befahl uns, schnell zu schlafen, denn wir würden bald wieder geweckt. Ich wollte wissen, warum sie nicht auch ins Bett kam, aber sie wollte Tante Eva beim Packen helfen.
    Während des Ersten Weltkriegs hatte Onkel Otto Automechaniker gelernt und bis zu seiner schweren Verletzung Kriegsfahrzeuge repariert. Er war auch jetzt noch kriegsuntauglich und leitete in Stettin einen Betrieb, der kleinere Militärfahrzeuge wieder einsatzfähig machte. Bevor wir ankamen, war im Werksgelände eine Bombe eingeschlagen und fahrbereit war nur ein »DK-Wuppdich« geblieben. Es war ein Kleintransporter, den er nun holte und mit all den Sachen belud, die er und Tante Eva in die Lüneburger Heide mitnehmen wollten, wo sie Verwandte hatten. Von ihnen wussten sie, dass die Heide kein Angriffsziel der Alliierten war.
    Als Dagi und ich zum Aufbruch geweckt wurden, gab es wieder eine längere Diskussion wegen unseres Reisezieles. Diesmal war es Onkel Otto, der wollte, dass wir mit ihnen führen. Auch Tante Eva fragte aufgeregt: »Wie denn?! Glaubst du, dass hier noch Züge gehen?«
    »Es gibt genügend Lastwagen, die nach Osten fahren. Bringt uns hinaus auf die Reichsstraße nach Stettin, dann werden uns schon welche mitnehmen,« widersprach meine Mutter.
    »Da ist alles zerstört«, protestierte Onkel Otto. »Ich habe mir das heute Morgen mit dem Fahrrad angesehen. Es gibt nur die Möglichkeit, nach Westen aus der Stadt zu kommen. Die Umgehungsstraßen sind frei, aber im Stadtgebiet ist alles Chaos und die Hölle.«
    Meine Mutter wollte trotzdem nicht mit nach Westen und entschied, dass wir zu Fuß die Stadt nach Osten verlassen würden.
    Onkel Otto warnte uns, dass sich auf der Ostseite der Stadt das Öllager befände, die Angriffe nun häufiger kämen und einen immer durchdachteren und bösartigeren Charakter annähmen.
    »Was meinst du damit?«, fragte meine Mutter allmählich ein wenig ungehalten.
    »Ihr werdet es nicht schaffen, vor dem nächsten Angriff aus der Stadt rauszukommen, und eins der Angriffsziele sind ganz sicher die Öllager auf der Ostseite.«
    »Gut, vielen Dank«, sagte sie. »Hoffentlich habt ihr alles eingepackt.«
    »Haben wir«, sagte Tante Eva, und damit verabschiedeten wir uns und zogen los.
    Tante Kläre hatte Tränen in den Augen. Sie war mit heruntergekommen, stand vor dem Haus und hielt ein weißes Taschentuch in der Hand, mit dem sie sich abwechselnd die Augen tupfte und uns nachwinkte. Später sagte sie, dass sie der Überzeugung gewesen wäre, uns nie wieder zu sehen.
    Meine Mutter hatte an der einen Hand Dagi und in der anderen den Koffer. Ich trug einen kleinen Kinderkoffer, in dem unser Waschzeug und die Zahnbürsten waren.
    Es hatte keinen Alarm gegeben, aber dennoch sah ich hoch oben am Himmel die Streifen eines Geschwaders. Das Ziel war vermutlich eine andere Stadt, weiter östlich. Die Streifen sahen aus, als würden weiße Schlangen durch das Luftmeer kriechen.
    Es gab einzelne Flugzeuge, die noch höher flogen und die über ihnen wie

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