Die Maikaefer
wasch die Pilze!« Ich tat das und wartete auf meine Mutter. Als meine Geduld am Ende war, schaute ich nach und fand sie alle immer noch am Radio. Sie unterhielten sich aufgebracht über den Volkssturm. Wie ich schüchtern in der Tür klebte, kam Mama schnell, schob mich hinaus und sagte, sie würde mir nachher etwas zu essen machen, müsste jetzt erst einmal Dagi ins Bett bringen, weil diese von irgendetwas im Wald gestochen worden war.
»Und die Pilze?« Ich war den Tränen nahe.
»Die machen wir morgen.«
»Morgen?« Ich war fähig, dies kleine Wort so gequält auszusprechen, dass es den Untergang der Welt signalisierte. Nach diesem Untergang würde es ein Morgen nicht mehr geben.
Doch ohne Zögern kam – was so typisch für sie war – ein rein pragmatischer Hinweis: »Die werden ja nicht schlecht bis morgen«.
Das war zu viel für mich, ich wollte auch nicht Pauls Erklärungen über den Volkssturm hören, sondern verließ die Wohnung und ging zu meinen Kaninchen, denn wenigstens sie verstanden mich.
Mein Vater, von meiner Mutter über meinen Zustand informiert, kam mir nach und zeigte mir am Walnussbaum, den er bei meiner Geburt gepflanzt hatte, die erste Frucht. Das brachte nicht viel und daher fragte er mich, ob ich gerne nach Drewitz wolle, und als ich das bejahte, lächelte er und »packte sein Geschenk« aus: Kutscher Grohmann werde mich und meine Schwester morgen nach Drewitz abholen.
Am nächsten Morgen sang meine Mutter fröhlich »Alles wird gut!« Sie strahlte es aus, und jeder sonst – mein Vater, die Schattners, Kutscher Grohmann – wussten es auch: alles würde gut werden, und das Lied Pommerland ist abgebrannt war nur ein Kinderlied.
Als meine Mutter ein paar Tage später nachkam, erzählte sie in großer Runde vom Pilzesuchen, und mir fiel wieder der Volkssturm ein. Ich gab meine Version zum Besten, denn vor Tante Sissi konnte ich meine Enttäuschung und meinen Schmerz beschreiben und hatte die Genugtuung, dass meine Mutter es gleich mithören musste. Der Anlass für die Verschiebung des Pilzessens, wie sie es jetzt darstellte, war nicht mein Vater, sondern die Nachricht über den Volkssturm, was mir wie eine platte Lüge vorkam. Ich hoffte, Tante Sissi würde enthüllen, was für eine unbedeutende Nichtigkeit dieser Volkssturm im Volksempfänger gewesen war, nicht wert, einen einzigen Pilz zu spät in den Topf zu tun. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet meine Mutter von einer Nachricht aus einem so winzigen Radiokasten beeindruckt sein würde. »Was ist denn der Volkssturm?«, fragte ich und legte schon so viel Ablehnung in meine Stimme, wie mir möglich war.
»Das ist eine neue Erfindung des Führers«, sagte die Gutsherrin. »Jeder soll eine Waffe erhalten, ob alt oder jung, krank oder lahm. Damit soll er die Notschutzgräben und Panzersperren verteidigen.«
»Erfindung? Erfindung ist doch eine Glühbirne, hast du mir einmal erklärt.«
»Dies ist auch eine Erfindung, wenn sie auch nicht leuchtet und erst in einem Experiment ausprobiert werden muss. Ein Experiment am deutschen Volk in allergrößtem Maßstab. Es gab da schon einige Experimente, zum Beispiel die Einnahme des Westens oder die Imitation des napoleonischen Russlandfeldzugs oder die volksinnere Vernichtung rassischen Fremdmaterials. Diese Experimente sind in so großem Stil angelegt, dass sie die Maßstäbe zerbrechen und die Sicherungen in den Köpfen der Menschen ausschalten. Wem das gelingt, der kann bei seinen Auftritten den ungeheuren Jubel und den rauschenden Applaus genießen, den die Masse ihm bei der Aussicht ihrer Selbstvernichtung spendet.« Sie war in Fahrt gekommen, ihre glatten, weißen Wangen waren rosa geworden, und sie gab zu, dass das ein kleiner Scherz gewesen war, den ich wohl noch nicht verstünde.
Meine Mutter wies dennoch daraufhin, dass ich den Scherz, auch wenn ich ihn nicht verstanden hätte, für mich behalten und meinem Freund Paul nicht weitererzählen solle.
Das war mir klar, schon wegen der unverständlichen Sprache. Hinter dieser Sprache lauerte immer eine Anstrengung, die von Angst oder Aggression zeugte. Das wusste ich von den Radio-Ansprachen. Die Redner redeten nicht, sondern schrieen. Trotzdem beharrte ich und wollte wissen, warum das ein Scherz war.
»Natürlich ist das ein Scherz, wenn ich sage, dass die Menschen ihrer Selbstvernichtung applaudieren. Sie wollen ja nicht sterben, das will kein Mensch. Ich denke, sie applaudieren, weil sie sich wünschen, dass
Weitere Kostenlose Bücher