Die Maikaefer
Stunden hatte sie sich in ein Flammenmeer verwandelt. Wir waren weit genug entfernt, um davon nicht mehr betroffen zu sein. Vielleicht auch hatte sich meine Angst verbraucht, denn fasziniert genoss ich dieses ungeheure Feuerspektakel. Ich fühlte mich allem überlegen, an meiner Seite war schlau und allmächtig meine Mutter, wir hatten sogar Dagi mitgeschleppt und gerettet, das Leben hatte für uns keine Gefahren mehr parat und dort, wo andere nicht weiterkamen und erschöpft niedersanken, öffnete sich für mich ein endloser Raum voller Abenteuer, gefüllt mit der Liebe meiner Mutter.
12. KAPITEL
A
ls wir in Naugard ankamen, unversehrt und guter Dinge, empfingen uns nicht nur die Kinder unten im Haus, die Kaninchen, Hühner und Gänse auf dem Hof und dahinter der Garten mit den von mir angelegten Beeten, sondern auch ein goldener Herbst.
Und mein Vater.
Das war also der Grund, weshalb sie nicht mit Tante Eva und Onkel Otto nach Westen hatte reisen wollen.
Nach der kurzen Begrüßung wurde ich in den Garten geschickt. Ich sollte meine Beete begutachten und dann, später, berichten. Besonders die Tomaten, die ich selbst gepflanzt hatte und auf die ich so stolz sei, fügte meine Mutter hinzu.
»Herbstsonne du siehst mir mit prallen Backen zu«, sang ich verquer nach eigner Melodie. Ich liebte die Sonne nicht nur, weil sie meine Haut wärmte, sie wärmte mich auch von innen, und ich wusste, dass meine Mutter nicht bloß eine Sonnenanbeterin war, sondern für mich auch eine Sonnengöttin. An diesem Herbsttag brachte die Sonne alle Gelb- und Rottöne zum Glimmen. Es waren die Farben, die ich am meisten mochte.
Ich zog ein paar Mohrrüben heraus, ging zu den Karnickelställen, öffnete eine kleine Maschendrahttür und hielt dem heranhüpfenden Kaninchen eine der Karotten hin. Ich kannte jeden Namen und redete sie auch immer so an. Blanche, das Angora-Kaninchen, war mir am liebsten.
Ich erinnere mich an diesen Tag so genau, weil mir abends ein großer Pilzeintopf mit Speck versprochen war, eines meiner Lieblingsgerichte, wenn meine Mutter es zubereitete.
Dieses kulinarische Wunder am 4. Oktober 44 begann damit, dass Alexa mich auf dem Gepäckträger nahm und Dagi vorne in das Körbchen setzte. Auf der Fahrt warnte sie uns im Namen meiner Mutter uns immer wieder vor den Giftpilzen, nach denen ich dann im Wald am meisten suchte und doch keinen fand. In meinem wütenden Eifer kürte mich Alexa bald zu einem »Champignon«. Ich wusste nicht, ob ich für sie der Pilz war, der all seine Schwestern und Brüder entdeckte und pflückte oder der Meister des Findens, denn immer wieder sah ich als Erster und schon von Weitem die kleinen Familien unter ihren weiß leuchtenden Hüten. Am meisten befriedigte es mich, wenn sie noch wie Eier waren, ganz geschlossen. Doch mich faszinierten auch die, bei denen ich durch das zerrissene Häutchen das rosa gerippte, etwas herb duftende Fleisch der Lamellen sah. Ich konnte nicht widerstehen, immer wieder daran zu riechen. Alexa zeigte uns, dass wir die ganze Hand unten um den Stiel legen sollten, um dann, wenn wir uns aufrichteten, den Pilz in der Faust sanft aus dem Boden zu heben. Das feste, von einer weißen, wächsernen Haut umgebene Fleisch erzeugte stets ein leichtes Ziehen in meinen Backenzähnen, sodass ich bei jedem Fund dem Drang widerstehen musste, reinzubeißen.
Ich hatte die meisten, mein Eimer war randvoll, aber natürlich behauptete Dagi, sie hätte fast so viele gesammelt wie ich.
Als wir nach Hause kamen, Dagi wieder vorne, ich hinten auf dem Fahrrad mit je einem Eimer links und rechts, empfingen uns die Schattners in großer Aufregung, weil es eine besondere Nachricht im Radio gegeben hatte. Alexa interessierte es, mich aber nicht, mich interessierten nur die Pilze. Wir hatten so viele davon, dass ich Schattners zu dem Pilztopf einlud, wenn sie beim Putzen der Pilze hülfen. Ich wüsste, dass meine Mutter Gäste bei Tisch immer willkommen hieß. Sie kamen auch sogleich mit herauf, gingen aber nicht in die Küche, um mir bei den Pilzen zu helfen, sondern eilten ins Wohnzimmer, um meinen Vater zu begrüßen und hockten sich sofort mit ihm vor den Volksempfänger. Sie steckten die Köpfe zusammen, sogar Alexa, sodass ich das Radio gar nicht mehr sehen konnte. Als ich darüber meckerte, zischten sie »Psst!« und sagten, sie möchten den Rundfunk-Aufruf Hitlers zur Bildung von Volks-Sturmbataillonen hören. Mein Vater übertönte sie noch mit: »Geh du in die Küche und
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