Die Maikaefer
lautes Gewummere an der Haustür. Alle hatten wir Angst, weil wir dachten, es wären die Russen. Niemand wagte sich zu rühren. Dann wieder so ein Gepolter, Stimmen und Rufe.
»Das könnte Paul sein«, flüsterte Tante Doro.
Meine Mutter stand auf. »Ich schaue nach.« Sie verließ den Keller und kam nach kurzer Zeit mit Paul und zwei etwas älteren Jungen zurück. Alle trugen HJ-Uniform, nur Paul einen Stahlhelm. Er war ihm viel zu groß, aber er hatte ihn sich mit zusammen geknülltem Papier am Kopf festgesteckt. Dadurch saß der Helm schräg. Es wirkte lustig, und ich fand, es passte zu Paul ebenso wie die Matrosenmütze, die er schräg getragen hatte. Oder seine grüne Baskenmütze, die er auch schräg trug.
Seine Mutter sprang elektrisiert auf, rannte auf ihn zu und wollte ihn in den Arm nehmen, aber er wehrte sich und stieß sie zurück. Durch den Ruck war der Helm gerade, jedoch zu groß und bedeckte seine Augen.
»Die russische Panzerspitze ist bis zum Marktplatz vorgedrungen«, sagte er zu laut.
Alle starrten wir die drei an. Der Älteste von ihnen, der bestimmt schon vierzehn war, brüllte: »Paul hat uns in der Flak-Stellung geholfen. Als die Munition zu Ende war, mussten wir uns zurückziehen.«
Und Paul: »Überall gibt es Straßenkämpfe. Wir werden den Erlenweg hier verteidigen.«
Erst jetzt sah ich, dass Paul eine Pistole in seinem Hosenbund hatte. Ein Patronengürtel hing ihm über die linke Schulter.
»Du wirst gar nichts machen, du wirst hier bleiben!«, schrie seine Mutter. Sie wollte Paul festhalten, aber der älteste Junge wehrte sie ab, und im nächsten Moment waren die drei die Treppe hinauf und verschwunden.
Alle waren wir entsetzt. Mit bebender Stimme sagte meine Mutter, wir müssten sofort aus der Stadt raus, es gebe keine andere Möglichkeit.
Pauls Mutter schüttelte weinend den Kopf. »Ich kann Paul hier nicht alleine lassen.«
»Wir gehen!«, sagte meine Mutter hart. »Geh mit Rex und spann ihn vor den Wagen, wir setzen Dagi da rein. Ich hol noch den Wertkoffer, und du wartest mit Hund und Wagen vorm Haus.«
»Und Tante Lieschen?«, fragte ich.
»Auf mich nehmt bitte keine Rücksicht«, sagte sie.
»Sie hat sich entschieden, hier zu bleiben, was sollen wir da machen? Los, beeil dich!«
Ich gab Rex einen Klaps, wir rannten los, und wenig später stand ich mit Hund und Wagen vor dem Haus.
Während ich wartete, stellte ich fest, dass keines der Häuser in unserer Straße getroffen worden war. Alle Fenster waren dunkel, und es schien, als würden die Leute schlafen oder verreist sein. Die Straßenlaternen brannten nicht mehr, doch durch den Schnee und das fahle Mondlicht konnte ich gut alle Umrisse erkennen. Überall krachte und knallte es, und am Himmel sah ich Blitze und Funken.
Wenig später kam meine Mutter mit Dagi, brachte noch vier Decken mit, setzte Dagi in den Wagen und wickelte sie ein. Nachdem sie Dagi verpackt hatte, sagte sie: »Nicht auf die Hauptstraße, ich weiß einen Schleichpfad, der nachher auf die Naugarder Chaussee nach Drewitz führt. Da umgehen wir den Flüchtlingstreck, ich glaube, nach Drewitz kommen wir durch.«
»Aber wenn da die Russen sind«, wandte ich ein.
»Dann haben wir Pech gehabt, aber auf der Hauptchaussee nach Westen zur Oder hin ist es zu gefährlich. Vielleicht ist auch alles verstopft, und morgen, wenn es hell ist, greifen die Tiefflieger an. Nein, wir gehen nach Drewitz.«
Tante Lieschen und die Schattners waren herausgekommen. Es war ein fünffacher, ein sechsfacher, ein neunfacher Abschied, bis sie uns nicht mehr begleiteten und wir uns nicht mehr umdrehten und winkten und »Viel Glück« riefen und unsere Tränen trocken waren. Rex hechelte weiße Wolken in die kalte Winterluft, Dagi saß mit rotem Gesicht bewegungslos wie eine finnische Holzpuppe auf dem Wagen und blickte über das Schneefeld vor uns, als betäube sie diese Reise ins Nichts. In Naugard waren wir noch an zerschossenen und brennenden Häusern vorbei gekommen, aber auf dem unbefahrenen Feldweg machte uns nur der Schnee zu schaffen. Ich führte Rex an der Leine und erinnerte mich an die Tage mit den Schattner-Kindern. Wie sehr hatte ich mir Mühe gegeben, Paul alles zu zeigen und ihn für das Leben auf dem Land zu begeistern. Ich hatte geglaubt, es wäre mir gelungen. Bis jetzt, da er aus seinen Kriegsspielen Ernst gemacht hatte. Wusste er, dass seine Familie ohne ihn nicht abreisen würde? Und was das bedeuten könnte, wenn die Russen Naugard wirklich
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