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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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während ich mit gesenktem Blick jede einzelne Stufe hinunter tappte, ohne meinen Blick von dem roten Kokosläufer zu nehmen, der in jeder Stufe durch eine Messingstange festgehalten wurde.
     
    Ich war der Letzte, alle hatten sich schon vor dem Haus versammelt. Als Rex und ich kamen, führ gerade ein Kübelwagen mit deutschen Soldaten vorbei. Er bremste scharf und kam die zehn Meter bis zu meiner Mutter und Tante Doro zurück. »Was macht ihr noch hier?«, brüllte einer. »Verschwindet! Die Russen waren schon in den Nachbardörfern, die vergewaltigen alles, was weiblich ist! Haut bloß ab!«
    »Wir sind ja schon auf dem Weg zum Bahnhof«, sagte meine Mutter.
    »Wir dachten, Naugard wird noch verteidigt!«, sagte Tante Doro, und Paul rief im Kommandoton:
    »Wie ist Ihre Einheit armiert?«, aber keiner achtete auf ihn.
    Der Soldat lachte bitter. »Schön wär’s, unsere Einheit hat es in kleine Grüppchen zersprengt, sie wird die Stellung nicht mehr lange halten können. Wie wollt ihr denn wegkommen?«
    »Mit dem Zug nach Berlin um 13.00 Uhr«, sagte Tante Doro.
    Der Soldat machte ein bedenkliches Gesicht. »Der Bahnhof liegt schwer unter Beschuss, wahrscheinlich ist die Strecke schon zerstört. Ihr kommt hier nur noch über die Reichsstraße nach Westen raus«, und rief im Abfahren: »Haut ab! Wir halten hier noch so lange die Stellung, wie wir Munition haben!«
    Nach diesem Auftritt der Soldaten passierte das Unglaubliche: Paul war verschwunden. Wir alle hatten nur auf die Soldaten geachtet, niemand hatte gesehen, wie er gegangen war. Aber er war weg.
    Ich ahnte sofort, dass er die Nachricht eben zu erschütternd fand, um sie zu akzeptieren. Er musste nun irgendwo stecken, wo er den Krieg weiterführen konnte.
    Wir suchten im ganzen Haus, in den Ställen, in der Umgebung, aber er war nirgends zu finden.
    Das bedeutete, dass wir unseren Plan, mit dem Zug hier wegzukommen, aufgeben mussten. Seine Mutter wollte ohne Paul Naugard nicht verlassen, und ohne die Schattners nutzte uns die Bescheinigung nichts, die uns erlaubte, aus Naugard abzureisen. Die Gendarmerie kontrollierte nicht nur den Bahnhof und die Hauptstraßen, sondern auch alle Seitenwege, sodass wir aus Naugard nicht raus konnten.
     
    Es gab mein großes Wiedersehen mit Tante Lieschen. Ich half ihr beim Abendbrot. Nach dem Essen verbrachten wir den Abend mit Schattners. Dorothea Schattner hatte noch versucht, in Berlin ihre Schwester anzurufen, um sie um Rat zu fragen, aber alle Leitungen waren schon unterbrochen gewesen. Das Thema war nicht die Abreise, sondern Paul, und meine Mutter versuchte immer wieder, ihr Mut zuzusprechen und sie zu überzeugen, dass er unversehrt wieder auftauchen würde. Bei jedem Geräusch machten alle »Pssst!« und hofften, er würde es sein.
    Nachdem mich meine Mutter ins Bett gebracht hatte, konnte ich nicht einschlafen, weil ich immerzu an Paul denken musste. Wohin war er verschwunden? Wo konnte er sein? Dann dachte ich an den kleinen Prinzen, vielleicht hatte der ihn auf seinen Stern geholt. Das Suchen nach B 612 machte mich müde, und ich schlief ein.
    »Steh auf, wir müssen in den Keller!«, hörte ich die Stimme meiner Mutter, während sie mich wachrüttelte. Sie zog mich aus dem Bett und befahl mir, mich alleine anzuziehen, weil sie sich um Dagi kümmern musste.
    Während ich mich anzog, stellte ich mich ans Fenster. Überall knallte und krachte es. Wie ein Hornissenschwarm hörte sich das Summen der vielen Motoren an. Am Himmel sah ich Funken. Auf halber Entfernung zwischen mir und dem Horizont schlug eine rote Lohe empor, und ein langes schrilles Pfeifen lähmte mich. Voller Schrecken starrte ich nach draußen. Ein Pfeil fuhr aus dem Himmel zur Erde. Unwillkürlich trat ich zwei Schritte vom Fenster zurück. Ich hatte den Eindruck, dass ich einem flammenden Faustschlag ausgewichen war, der eben das Haus erschüttert hatte. Meine Mutter schrie meinen Namen, ich rannte zu ihr, gefolgt von Rex. Wir nahmen Tante Lieschen in die Mitte und gingen in den Keller.
    Die Schattners waren schon da, nur Paul nicht. Während sich jeder einen Platz suchte, sagte Tante Doro, eine Luftmine sei nicht weit entfernt auf das Feld gefallen. Verzweifelt fügte sie hinzu: »Wo ist bloß Paul?«
    Meine Mutter ging hinaus, um festzustellen, was passiert war. Als sie wieder kam, sagte sie, das Haus sei durch einen langen Riss vom Keller bis zum Boden hinauf gespalten, das Dach beschädigt, und die Treppe habe sich gesenkt.
    Plötzlich war ein

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