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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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allen Seiten, meine Mutter, Tante Kläre, Tante Lieschen, Paul und seine Mutter, Irmchen, Laura, sogar schon Rex und nicht zuletzt Alexa – im Badeanzug, stehend auf dem Leierkasten mit dem Affen. Die Mappe und die Blätter waren zu groß für meinen Rucksack, und ich fragte Tante Lieschen, ob sie in meiner Abwesenheit auf die Mappe aufpassen könnte.
    Tante Lieschen muss es so erschienen sein, als hätte ich mich schon damit abgefunden, dass sie bleiben und uns niemals wiedersehen würde, aber sie nahm den Auftrag mit einem nachsichtigen Lächeln an und schlug vor, den Block unter der Matratze ihres Bettes zu verbergen, damit niemand ihn finden könne.
    Als meine Mutter zurückkam, erklärte sie mir, wie wir morgen zusammen mit den Schattners Naugard verlassen würden: Für Umquartierte, wie die Schattner es waren, gab es Bescheinigungen, die sie zum Verlassen der Stadt berechtigten, während alle anderen bis zum letzten Blutstropfen ausharren mussten. Von diesen Bescheinigungen hatte sich Tante Doro zwei von ihrer Schwester besorgen lassen. In die zweite wollte sie meine Mutter als ihre Schwester und uns als deren Kinder eintragen. Wir würden morgen den Mittagszug nach Berlin nehmen, der sicherlich noch Platz hätte, weil niemand aus Naugard raus durfte. Es war zwar nicht ungefährlich, weil wir unter einem falschen Namen reisten und die Feldgendarmen, die den Bahnhof kontrollierten, ziemlich scharfe Hunde waren – meine Mutter nannte sie Kettenhunde –, aber sie machte sich deswegen keine großen Sorgen, sie würde das schon hinkriegen, schließlich wären Kettenhunde auch nur Tiere.
    Abends half ich ihr, einen kleinen Handkoffer aus dunkelbraunem, festem Leder zu packen, wo nicht nur ihr Schmuck und die wichtigsten Papiere reinkamen, sondern auch die Taschenuhr meines Vaters, meine von Opa geerbte, goldene Armbanduhr, mein Sparbuch mit sechshundert Reichsmark und Dagis mit zweihundert. Meine Mutter fand noch ein paar Uhren, die sie gegen irgendetwas eingetauscht hatte. Dies war der Wertkoffer, auf den auch ich besonders aufpassen sollte.
     
    Am nächsten Morgen wurden wir durch heftiges Geschützfeuer geweckt. Meine Mutter holte uns aus den Betten und war sehr besorgt, dass es vielleicht zu spät sein könnte. Die Russen waren bis zum Stadtrand vorgerückt, und Naugard lag unter Beschuss. »Überall schlagen schon die Granaten ein«, sagte sie, aber ihre Stimme drückte noch keinen Alarm aus.
    Anziehen, lossausen, runter zu den Kaninchen. Ich wollte nicht, dass sie den Russen in die Hände fielen, lieber sollten sie ein neues Leben in Freiheit beginnen.
    »Ich liebe dich«, sagte ich wie die Blume des kleinen Prinzen. »Vielleicht hast du nichts davon gewusst, aber ich habe es dir öfter gesagt.« Ich nahm das weiche Angora-Kaninchen, schaute in seine blauen Augen und sagte: »Versuche, glücklich zu sein.« Dann setzte ich es ab und gab ihm einen kleinen Schubs.
    Es hoppelte ein bisschen in Richtung auf den Haselnussstrauch, wusste aber nicht, was es da sollte, schaute sich nach mir um und kam wieder zurück.
    Ich stampfte mehrmals mit dem Fuß auf und klatschte in die Hände. Das war es von mir nicht gewöhnt, es hüpfte durch den Schnee davon und verschwand unter der Haselnusshecke.
    Das letzte Adieu galt meiner geliebten Tante Lieschen. Fertig zum Aufbruch ging ich in die Küche, wo sie zwischen Herd und der Küchenanrichte saß. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und hatte den Platz gewählt, der im Winter am wärmsten war, wenn die Briketts unter der Herdplatte glühten. Die vielen Sachen, die meine Mutter mir angezogen hatte, machten mich unbeholfen, und ich fühlte mich wie ein wandernder Bär. Ich nahm die Skimütze ab, weil ich mich an sie schmiegen wollte und der Schirm uns getrennt hätte. Sie nahm mich in den Arm, aber ich konnte nicht einmal Auf Wiedersehen sagen, weil ich dann geweint hätte.
    »Wenn wir uns nicht wieder sehen sollten«, sagte sie leise, »ich wünsch dir alles Gute. Ich habe dich immer lieb gehabt und werde dich immer lieb behalten.«
    Mir wurde ganz heiß, meine Augen brannten, und es ließ sich doch nicht vermeiden – ich heulte los wie ein Schlosshund und bekam wegen des Schluchzens kaum noch Atem.
    Von draußen rief meine Mutter: »Wir müssen los!«
    Wie ein zu dicker Bär taumelte ich zur Tür, mich immer wieder umdrehend, um Tante Lieschen zuzuwinken.
    Im Flur sprang mich Rex an, der die Treppe hinunter rannte, an der Haustür umkehrte, wieder herauf kam und so weiter,

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