Die Maikaefer
ihrer Seite, und auch ich hatte einen sehr konkreten Grund dafür: Wir erwarteten Tante Lieschen mit dem Abendzug. Sie wollte eine Woche bleiben, und ich freute mich schon tagelang auf ihren Besuch. Alexa hatte es übernommen, sie am Ende ihres Hundespaziergangs vom Zug abzuholen und ihr den Koffer zu tragen. Daher sprang ich, als ich Rex bellen hörte, von der Kaffeetafel auf, die meine Mutter für die Offiziere und uns gedeckt hatte, rannte zur Tür und Tante Lieschen gleich in die Arme. Sie sagte, sie habe mir einen Zeichenblock und Wasserfarben mitgebracht. Ich hatte ihr versprochen, für sie den Traum von den fliegenden Elefanten zu malen, wenn ich einen neuen Block und Wasserfarben hätte.
Als wir ins Wohnzimmer kamen, saß Alexa weinend auf einer Kante des Stuhls und beschwor meine Mutter: »Bleiben Sie, bitte bleiben Sie – Ihnen passiert nichts! Ich beschütze euch!«
Ich hatte keine Ahnung, worum es ging.
Einer der Offiziere stand auf. »Sie wollen die Leute hier beschützen?« Er ging zum Fenster und wandte sich schroff um. »Sie wissen wohl nichts von Stalins Befehl, dem zufolge alle Russen, die hier in Gefangenschaft gearbeitet haben, wie Deserteure zu behandeln sind. Ich nehme an, das bedeutet Sibirien. Da können Sie sich auch gleich hier das Leben nehmen.«
Es war unklar, ob Alexa das wusste oder nicht, jedenfalls war es plötzlich ganz still, meine Mutter schaute sie an, niemand sagte mehr ein Wort, und in diesem Moment hörten wir Geschützdonner in der Ferne.
»Was ist das?«, fragte meine Mutter.
»Das ist feindliches Artilleriefeuer«, sagte der Offizier.
»Ich habe hier Bekannte«, sagte Alexa. »Ich gehe jetzt zu ihnen und werde dort die Nacht verbringen. Morgen fahren wir zusammen nach Russland. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.« Sie weinte wieder, umarmte uns noch einmal und ging.
Ich weinte auch, denn Alexa war mir nach Mama und Tante Lieschen der liebste Mensch geworden, und ich hätte mich bestimmt vollständig in Tränen aufgelöst, wenn meine Mutter nicht gesagt hätte, sie gehe jetzt nach unten zu Dorothea Schattner, um zu besprechen, wie wir hier wegkämen. Die Offiziere verabschiedeten sich, weil sie zu ihrer Truppe mussten, und meine Mutter riet mir, alles einzupacken, was ich mitnehmen wollte.
Dann wandte sie sich an Tante Lieschen. »Es tut mir so leid, dass du hier mitten in den Aufbruch gerätst, aber wer kann das wissen in diesen Zeiten.«
»Wer weiß, wozu es gut ist«, sagte Tante Lieschen lächelnd.
»Richtig, du hast vollkommen recht, du hast ja eigentlich alles dabei, also kommst du mit uns. Wenn sie Naugard einnehmen, ist Gollnow als nächstes dran.«
»Wo wollt ihr denn hin?«
»Ich bespreche das jetzt mit Dorothea Schattner. Ihre Schwester steht mit einem Fuß im Propaganda-Ministerium. In Berlin wird man am besten wissen, was zu tun ist.«
Tante Lieschen schüttelte den Kopf. »Das ist wohl nichts für mich. Ich will zurück nach Gollnow. Was soll einer alten Frau schon passieren?« Sie lächelte, als wäre sie glücklich, nicht mehr reisen zu müssen. »Ich habe eingeweckte Kirschen mitgebracht und auch ein bisschen Fett. Ich werde mich mal um das Essen für heute Abend kümmern.«
Während meine Mutter zu Schattners ging, half ich Tante Lieschen dabei, ihren Koffer auszupacken. Rex durfte zusehen, und ich zeigte Tante Lieschen, wie gut er schon gehorchte und welche Kunststücke ich mit ihm machen konnte.
Tante Lieschen erinnerte mich daran, dass ich meine Sachen packen sollte, was mir plötzlich falsch und unwirklich erschien. Ruhig und friedlich waren die Tage seit unserer Rückkunft aus Zernikow gewesen. Dann war Alexa mit dem Hund spazieren gegangen, zurück gekommen, und in kurzer Zeit wandelte sich alles, als wäre sie eine Hexe, die mit ihren Tränen ganze Städte verschwinden lassen konnte.
»Alexa ist keine Hexe«, widersprach Tante Lieschen. »Der Zauberer sitzt woanders.« Dann wollte sie unbedingt, dass ich meine Sachen zusammenlegte, die in den Rucksack sollten.
Als Erstes nahm ich die Fingerhandschuhe aus dem Schrank, die sie mir geschenkt hatte, dann einen Pullover, den Tante Kläre aus aufgeräufelter Wolle für mich gestrickt hatte. Und dann? Mein Blick fiel auf meine große blau-weiße Zeichenmappe. Ich nahm sie und ging wieder zu Tante Lieschen ins Zimmer, um ihr die bunten Bilder zu zeigen, die ich in der Zwischenzeit gemalt hatte: die Gänse, der Ganter Cerberus, alle Kaninchen und Blanche sogar zweimal, das Haus von
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