Die Malerin von Fontainebleau
Momenten wie diesem, dass jemand sie sehen und ihr Geheimnis entdecken könnte. Die Konsequenzen waren unvorstellbar. Sorgfältig band sie das Tuch fest und schlüpfte in ein frisches weißes Hemd. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, der fest und flach war. Rosso hatte ihr gezeigt, wie begehrenswert ihr Körper war, und sie vermisste ihn. Dabei war es weniger das Körperliche als vielmehr die Vertrautheit,
die sich zwischen ihnen eingestellt hatte, wenn sie zusammen arbeiteten. Oft bedurfte es nur eines Blickes oder weniger Worte, und sie verstand, was er meinte, und konnte seine Vorstellungen in Entwürfen oder an einem Fresko umsetzen. Durch das Lesen seiner Bücher war sie in seine Gedankenwelt getreten, hatte erste Schritte in diesem riesigen Kosmos des Wissens getan. Sie begann zu verstehen, wie er auf diese über die Maßen komplexe Idee für die Galerie gekommen war. Es stand so viel mehr dahinter, als sie geahnt hatte, auch für sie begannen sich die einzelnen Details der Galerie zu einem vielschichtigen Gebilde voller überraschender Bezüge und Mehrdeutigkeiten zu formen.
In ihrer Vorstellung sah sie nun die Freskenpaare mit den umgebenden Stuckelementen, die Holzpaneele, die noch angebracht werden mussten, und die Gegenstücke in Decke und Fußboden, der ebenfalls noch verlegt werden musste.
Die Galerie war das eigentliche Kernstück Fontainebleaus. Schon aufgrund ihrer Lage innerhalb des Ensembles bildete sie den Mittelpunkt der Schlossanlage. Der König allein besaß den Schlüssel zu ihr und würde entscheiden, welchem seiner Gäste die Ehre zuteil wurde, das Meisterwerk zu sehen.
Luisa bürstete die halblangen dunklen Haare und band sie zusammen. Ihr Gesicht war härter geworden, stellte sie im Spiegel fest. Sie sah tatsächlich immer mehr wie Armidos jüngerer Bruder aus. Da ihre Haut einen Olivton hatte, fiel der fehlende Bart nicht allzu sehr auf, dennoch griff sie nach einem verbrannten Holzscheit und rieb sich die Wangen mit etwas Ruß ein. Manchmal beneidete sie die Damen in ihren duftigen Kleidern, wie sie mit aufgesteckten Locken und schwingenden Ohrringen flanierten. Doch dann dachte sie an ihre Arbeit und die Freiheit, die ihr die Männerkleidung gewährte, und verwarf solch negative Gedanken.
Auf dem Stuhl lag ihr Arbeitswams. Der braune Stoff war an den Ellenbogen abgewetzt, und die Aufschläge waren voller Staub und Mörtel, doch es war ihr zu einer zweiten Haut geworden, und wenn die Frauen wüssten, wie bequem Beinkleider waren, würden sie wahrscheinlich Korsett, Drahtgestell und schwere Unterröcke dagegen tauschen wollen. Lächelnd band Luisa den Gürtel um, streifte die weichen Stiefel über und überprüfte ihre Erscheinung. Fehlte nur die Lederkappe.
In Rossos Arbeitszimmer lagen unzählige Rollen mit seinen Entwürfen in Regalen. Er hatte ihr gestattet, an einem großen Tisch zu zeichnen, und sie genoss dieses Privileg. Sobald sie mit ihrer Arbeit in der Galerie fertig war, zog sie sich hierher zurück und zeichnete an ihrer Semele . In groben Zügen musste sie sich an Rossos Komposition halten, doch für die Figur der Semele hatte er ihr freie Hand gelassen. Kritisch glitt ihr Blick über den Frauenkörper, den sie gestern Abend gezeichnet hatte. Diese Frau atmete keine Leidenschaft. Sie nahm die Kohle, ließ sie aber wieder fallen. Dafür war keine Zeit. Matteo hatte die erste Putzschicht bereits aufgetragen.
Sie nahm die Pause, ein dünnes Blatt, auf das sie Rossos Entwurf für das heutige Detail kopiert hatte, und ging zur Tür. Wehmütig glitt ihr Blick durch den Raum und blieb an Rossos Hemd hängen, das er vor seiner Abreise auf den Stuhl geworfen hatte. Die beiden einzigen Männer in ihrem Leben, die sie liebte, waren fort. Zumindest musste sie sich nicht um Rossos Sicherheit sorgen, doch wo war Armido? Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Gib mir ein Lebenszeichen, Armido. Lass mich wissen, dass es dir gut geht.
»Trübe Gedanken, Luca? Hast du schon gegessen?« Scibec de Carpi schien an diesem Morgen ausgesprochen guter Dinge zu sein, denn er ging federnden Schrittes neben ihr her.
»Nein. Ich muss zuerst in …«
»Ach was, zuerst einen Schluck Bier und ein Stück Wurst.«
»Sind wir nicht noch in der Fastenzeit?« Luisa wusste, wie sehr Scibec darunter litt.
»Wer arbeitet, kann nicht hungern. Das hat Gott nicht gewollt!« Er schlug sich auf den leicht gewölbten Leib.
Sie waren fast am Treppenhaus angelangt, als sie auf die Niederländer trafen. Thiry
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