Die Marionette
seinen Sitz auf der überdachten Tribüne eingenommen hatte, überprüfte die Position des winzigen Senders, den er trug, und stellte ihren Empfänger so ein, dass er Alarm gab, wenn Bender seinen Platz verließ. Sie wusste, dass er sie dabei beobachtete. Er kannte die Technik, mit der sie arbeitete, sie war ein Produkt der Larenz-Werke.
Unten auf dem Geläuf galoppierten bereits die ersten Pferde um den Sieg. Ein Nachwuchsrennen, das nur wenig Publikumsinteresse fand. Auch Katja interessierte sich beim Blick durch ihr Fernglas nicht für das Feld, das eben auf die gegenüberliegende Gerade einbog, sondern kontrollierte die Umgebung. Das
Frühjahrsmeeting
war bei weitem nicht so mondän wie der
Große Preis von Baden-Baden,
der alljährlich im Spätsommer ausgetragen wurde, doch für ihre Zwecke war es exklusiv genug.
Das Gelände füllte sich schneller, als sie erwartet hatte. Immer mehr Menschen drängten auf den gepflegten Rasen und füllten allmählich die Plätze auf den Tribünen, und mitten unter ihnen saß Gerwin Bender, starr vor Angst. Der Kopfhörer in ihrem Ohr übertrug jedes Geräusch, das er machte, sowie Gesprächsfetzen eines Pärchens, das in seiner unmittelbaren Nähe saß. Sie hatte einen flüchtigen Blick auf die beiden geworfen, erinnerte sich an ein Polohemd unter einem Sportsakko und lange, blonde Locken über fliederfarbenem Chiffon. Sie verdrängte die leise Stimme des Zweifels, die sie bei dem Gedanken ungewollt hörte. Es waren diese Menschen, die ihre Stimme Politikern gaben, die Soldaten in einen Krieg schickten, den sie weder verstanden noch gewinnen konnten, in dem Menschen starben, um Gebietsansprüche und Wirtschaftsinteressen wie zu Kolonialzeiten zu sichern. Sie ahnten nicht – und, noch schlimmer, es interessierte sie nicht –, wie es sich anfühlte, im Dreck zu liegen, in ständiger Todesangst, weil Ausrüstung und Vorbereitung zu schlecht waren. Katja hatte genug von der Hinhaltetaktik der vergangenen Tage, von Versprechen auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die im Sand verlaufen würden, weil niemand außer den betroffenen Soldaten ein wirkliches Interesse an der Aufklärung hatte.
Diese gesättigten Menschen brauchten mehr als Bilder von Sterbenden aus einem fernen Land. Sie würden erst begreifen, wenn der Krieg zu ihnen kam, wenn eines der Herzen, mit denen diese Gesellschaft pochte, aufhörte zu schlagen. Wenn es zerbarst wie das Herz jenes Mannes in Kabul, der sich auf der Straße vor ihr in die Luft gesprengt hatte.
***
Iffezheim bei Baden-Baden, Deutschland
So würde es also enden. Bender starrte auf die vorbeigaloppierenden Pferde, die bunten Flaggen, hörte die anfeuernden Rufe des Publikums. Wie oft war er schon hier gewesen, zuletzt drüben auf einem der Balkone der Bénazettribüne. Die Larenz-Werke hatten ein ganzes Stockwerk reservieren lassen in der vergangenen Saison. Das erste Mal seit seiner Entführung aus dem Atlantic ließ er die Bilder zu, die vor seinem inneren Auge auftauchten. Das erste Mal gestattete er sich einen Rückblick bis in seine Kindheit. Damals schon war er hier nach Iffezheim gekommen. Mit seinen Eltern. Natürlich war ihm das Gelände zu jener Zeit größer erschienen, es hatte Zugang zu den Ställen gegeben, und er hatte mit den anderen Kindern im Stroh gesessen, während die Erwachsenen auf der Tribüne Champagner tranken. Sie hatten zugeschaut, wie die Pferde geputzt und gesattelt wurden, wie sie tänzelten und schnaubten, wenn die Jockeys in die Sättel gehoben wurden. Er hatte nie gewettet. Weder damals noch heute. Er war kein Spieler. Vom ersten Tag an war es ihm eine Freude gewesen, den Pferden dabei zuzusehen, wie sie ihre Kraft auf das Geläuf brachten, wie sie aus der Startanlage sprangen, wenn sich die Tore öffneten. Juliane hatte seine Leidenschaft erst akzeptiert, dann geteilt. Jedes Jahr waren sie hier gewesen und hatten während der großen, im September stattfindenden Rennwoche von Baden-Baden sogar ihren Hochzeitstag hier gefeiert. Die Erinnerung trieb ihm die Tränen in die Augen. Das erste Mal, seit Katja ihn entführt hatte.
Er machte sich keine Hoffnungen, dass er den Tag überleben würde. Seine Freiheit war greifbar nahe und hätte doch nicht weiter entfernt sein können. Was ihn von ihr trennte, waren sieben Kilo Plastiksprengstoff, die wie ein Gürtel um seine Körpermitte lagen. Katja Rittmer hatte den Zünder so programmiert, dass er das C4 zur Explosion bringen würde, sobald er sich von
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