Die Marionette
zwei Monaten wäre ihre Dienstzeit in Afghanistan abgelaufen, und auch, wenn sie es sich nicht hatte eingestehen wollen, wusste sie, dass es höchste Zeit gewesen war. Chris war bei ihr gewesen, als die Alpträume und Anfälle erneut begonnen hatten, als Schlaf keine Erholung mehr war, sondern zur Bedrohung wurde. »Du musst hier raus, Baby«, hatte er gesagt und sie wie einen Säugling im Arm gehalten, bis das Zittern verebbte. Sie hatte seine schweigende Ablehnung im Krankenhaus nur schwer ertragen, dennoch hatte sie sie ausgehalten. Jetzt würde sie für ihn da sein. Er würde die nächsten Monate in Koblenz verbringen, danach in einer Reha-Klinik wieder Laufen lernen. Auf Krücken. Wie sie, wie alle deutschen Soldaten, die in Afghanistan ausharrten, kämpften und jeden Tag aufs Neue ihr Leben riskierten, war er betrogen worden.
Die Sonne löste die Nebelreste auf, trocknete das Dach des Marterls und brachte den hellen Stein der Figur zum Leuchten. Katja würde nicht mehr zurückkehren in das Land am Hindukusch. Das hatte ein hastig einberufenes militärisches Gremium des Einsatzführungskommandos in Potsdam beschlossen und ihr durch einen ihrer Offiziere mitteilen lassen. »Die schriftliche Begründung erhalten Sie in den nächsten Tagen«, hatte er unbeteiligt erklärt. Sie war zunächst freigestellt bei fortlaufenden Bezügen. Aus dem Verkehr gezogen. Sie hatte geahnt, dass es passieren würde, und hatte vorgesorgt. Sie würde sich nicht aufs Abstellgleis schieben lassen. Sie würde herausfinden, wer hinter der deutschen Waffenlieferung steckte. Es war das Einzige, das sie noch antrieb. Sie würde herausfinden, wer verantwortlich war für all die toten und verletzten Kameraden. Noch in Mazar-i-Sharif hatte sie den Kontakt zu den Amerikanern gesucht, die dort im deutschen Feldlager stationiert waren. Sie hatte ein vertrauliches Gespräch auf Augenhöhe mit dem Kommandanten der Special Forces geführt. Sie kannten sich, nicht erst aus Afghanistan. Er hatte die weiteren Kontakte hergestellt, und dann war alles sehr schnell gegangen. Beinahe überstürzt hatte sie knapp zwölf Stunden später das Land verlassen. Um dann am Ende einem deutschen Geschäftsmann in einem Züricher Hotel gegenüberzusitzen, der genau die Informationen besaß, die sie brauchte, und dessen Leben genau aus diesem Grund nicht mehr sicher war.
Wortlos hatte dieser die Projektile, die sie mitgebracht hatte, im Licht gedreht. »Woher haben Sie die?«
»Aus meiner Schulter«, hatte sie geantwortet, und er hatte sie mit neuem Interesse betrachtet. »Wie lange waren Sie in Afghanistan?«
»Zweimal anderthalb Jahre.«
Erstaunlicherweise sprachen sie sofort eine Sprache, was nur einen Schluss zuließ: Er kannte das Land, wusste, wie es sich anfühlte, keinen Schritt, keine Fahrt ohne das Risiko zu machen, einem Attentat zum Opfer zu fallen. »Wie oft waren Sie dort?«, fragte sie.
»Mehrfach«, erwiderte er knapp. »Vielleicht zu oft.«
Er wusste, worauf er sich einließ und welche Gefahr sein Handeln barg. Er lehnte den Schutz, den sie im Auftrag der Amerikaner für ihn übernehmen und der ihr einige wichtige Türen öffnen sollte, nicht ab. »Haben Sie schon mal als Personenschützer gearbeitet?«, wollte er lediglich wissen.
Sie hatte genickt.
Er war sehr bestimmt. »Ich mache mir Sorgen um meine Familie«, hatte er eingestanden. »Meine Frau … sie ist schwanger.« Katja erfuhr, dass es seiner Frau in den letzten Monaten der Schwangerschaft nicht gutging. Dass er Angst um sie und das ungeborene Kind hatte. Dass sie angeblich bereits eine Fehlgeburt hinter sich hatte. »Sie darf sich nicht aufregen«, betonte er.
»Warum haben Sie sich unter diesen Umständen zu diesem Schritt entschlossen?«, wollte sie wissen.
Über den Tisch hinweg sah er sie an. »Vielleicht erzähle ich es Ihnen irgendwann.« Er lächelte nicht bei diesen Worten. Er hatte nicht einmal zur Begrüßung gelächelt.
Katja trat von dem Marterl an der Wegkreuzung zurück und warf einen letzten Blick auf die Marienfigur. Sie hatte diese Figur schon als Kind geliebt und ihr ihre Sorgen und Nöte anvertraut. Diesmal war sie unfähig, ihre Gedanken und Ängste in Worte zu fassen. Nachdem sie aus dem Feldlazarett entlassen worden war und Chris im Krankenhaus besucht hatte, war alles in ihr verstummt. Sie wanderte wie paralysiert durch ihr eigenes Leben und war zu einer Beobachterin ihrer selbst geworden. Mehr als alles andere fürchtete sie den Moment, in dem sich diese
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