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Die Marionette

Die Marionette

Titel: Die Marionette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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das unbeschwerte Gefühl, eins zu sein mit der Welt, für immer zerstört. Geblieben war eine kalte Leere, das Bewusstsein, dass alles, was ihr diese beiden Frauen entgegenbrachten, nicht echt, nicht wahrhaftig sein konnte. Der Platz, den sie bislang in ihrem Leben eingenommen hatte, hatte seine Selbstverständlichkeit verloren, und es gab niemanden, mit dem sie darüber hätte sprechen können. Damals nicht, nicht in den Jahren, die folgten, und selbst heute nicht. Es war ein Geheimnis, das sie erst viele Jahre später in vollem Ausmaß verstanden hatte. Als sie während der Balkankriege als Sanitätsfeldwebel auf von Soldaten und Milizionären vergewaltigte Frauen traf, in ihre Augen und auf deren Neugeborene blickte, in ärmlichsten Umständen, verlassen von den Familien, begann sie zu begreifen. Aber da war es bereits zu spät, das zerrissene Band zu flicken. Zu weit hatten sie sich voneinander entfernt.
    Weder ihre Mutter noch ihre Großmutter hatten erkannt, dass sie in jener einen schrecklichen Nacht erfahren hatte, was sie war. Welches Leid ihr Dasein über ihre Mutter gebracht hatte, die zu fest in ihrem Glauben verankert war, um dieses ungewollte Kind letztlich nicht doch zu lieben.
    Vielleicht hatten sie es geahnt. Vielleicht hatten sie Katjas Rückzug, ihre plötzliche Schweigsamkeit aber auch nur ihrem Alter zugeschrieben, dem Finden des eigenen Ichs. Es war so viel leichter gewesen, als der Wahrheit in das hässliche Gesicht zu sehen.
    Katja griff nach der Wasserflasche, die neben dem Bett stand, und trank in langen, durstigen Schlucken. Das Plastik knackte zwischen ihren Fingern, als sie die leere Flasche zerdrückte, den Kopf zurücksinken ließ auf das Kissen, die Decke ihres Hotelzimmers anstarrte und den Lichtschein verfolgte, der von einem langsam vorbeifahrenden Auto geworfen wurde.
    Sie hatte ihren Vater nie gesucht. Nie nachgefragt, ob er für das Verbrechen an ihrer Mutter verurteilt worden war. Gesühnt hatte. Oder ob er einfach weitergelebt hatte. Unerkannt. Unbehelligt. Sie wusste nur, er war Soldat gewesen. Sie hatte Soldaten getötet. Im Kosovo. In Somalia. Im Irak. Und in Afghanistan die Taliban. Während ihrer ersten Einsätze hatte sie dabei noch an ihren Vater gedacht. Ihren Gegnern das Gesicht gegeben, das sie nie gesehen hatte. Es hatte das Töten möglich gemacht. Doch schon bald hatte sich dieser Drang verloren. Sie hatte ihr Trauma abgearbeitet, nur um es durch ein neues zu ersetzen.
    Sie war nicht vorbereitet gewesen auf Minenfelder und Selbstmordattentäter, auf zerfetzte Kinderleichen, sterbende Kameraden und vor allem nicht auf die Angst als ständigen und oftmals einzigen Begleiter. Die Angst hatte sie wachsam und vorsichtig gemacht. Doch wie sehr sie gleichzeitig zu einem Teil von ihr geworden war, wie sehr sie ihre Persönlichkeit verändert hatte, hatte sie erst während eines Heimaturlaubs erfahren. Im Supermarkt an der Kasse hatte sie drei Menschen zu Boden gerissen, weil sie geglaubt hatte, dass sich ein Attentäter in einer Regalreihe hinter ihnen versteckt hielt. Das Schlimmste war das Entsetzen in den Gesichtern der Menschen gewesen, als sie mit gezogener Waffe die Umgebung gesichert hatte. Die Leute waren vor ihr zurückgewichen und hatten sie angestarrt, als wäre
sie
der Attentäter. Sie hatte eine Anzeige bekommen wegen Hausfriedensbruchs und des unerlaubten Tragens einer Waffe in der Öffentlichkeit. Darauf hatte sie ihren Urlaub abgebrochen und war zurück in den Krieg gegangen. Dort funktionierte sie. Dort waren ihre Kameraden, die sie verstanden. Dort wurde sie gebraucht und konnte so verdrängen, was mit ihr passierte. Wie alle anderen auch. Nur so war Überleben möglich gewesen. Sie hatte sich in immer neue, immer gefährlichere Einsätze gestürzt. Bis Somalia. In Somalia hatte sie das erste Mal die Kontrolle verloren. Bei dem Gedanken daran tastete sie intuitiv nach ihrer Waffe unter dem Kopfkissen. Nach dem Vorfall in Somalia hatte sie eine Therapie begonnen. Aber sie hatte nicht mit ihnen reden können, diesen Psychologen, die nicht wussten, was Krieg wirklich bedeutete, die nicht gesehen hatten, was sie gesehen hatte. Die einfach nicht dazugehörten. Sie hatten sie durchgereicht, vom einen zum nächsten. Nach dem dritten Therapiewechsel hatte sie sich geweigert, weiterzumachen.
    Niemand hatte nachgefragt, als sie sich wieder für einen Einsatz meldete. Sie waren damals knapp gewesen an gut ausgebildeten Spezialisten.
    ***
    Das Klingeln ihres Handys

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