Die Marionette
schreckte sie auf. War sie eingeschlafen? Benommen tastete sie nach dem Telefon, blickte auf das blinkende Display und war sofort hellwach, als sie die Nummer erkannte.
»Hi, Baby.« Chris’ Stimme klang rauh und müde. Alles in ihr sehnte sich plötzlich nach ihm, und irgendwo in ihr stieg eine absurde Hoffnung auf.
»Chris! Wie geht es dir?«
Er antwortete nicht gleich, und sie fürchtete schon, er könnte wieder aufgelegt haben. »Ich muss dich sehen«, sagte er schließlich. »Kannst du kommen?«
»Ja, ja, natürlich.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war zwei Uhr, mitten in der Nacht. Sie war tatsächlich eingeschlafen. »Zum Frühstück bin ich bei dir, Chris.«
»Ich warte auf dich.«
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihre Sachen zusammensuchte: Notebook, Zigaretten, eine Flasche Cola. Der Wagen stand in der Tiefgarage, eine unauffällige Limousine mit Hamburger Kennzeichen, die ihr das amerikanische Konsulat zur Verfügung gestellt hatte. Auf dem Weg zur Autobahn gab sie die Adresse in das Navigationssystem ein. Fünf Stunden. Das erste Mal seit ihrer Rückkehr aus Afghanistan fühlte sie wieder Leben in sich.
Die Straßen waren wie leergefegt um diese Uhrzeit. Nur ein paar Taxen waren unterwegs und ein Nachtbus. Sie fuhr auf die Autobahn, durch den Elbtunnel und den hellerleuchteten Hafen, vorbei an den Containerterminals, an denen die Schiffe Tag und Nacht be- und entladen wurden. Als sie den Großraum Hamburg hinter sich gelassen hatte, zog sie ihr Handy aus der Brusttasche ihrer Jacke, schrieb eine kurze SMS an Valerie Weymann und sagte ihren Termin für den Vormittag ab.
Während der einsamen Fahrt kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Chris zurück. Daran, wie er vor etwa vier Wochen vor ihr gestanden und ihr ohne große Umschweife erklärt hatte, dass es nun Zeit sei, mehr aus ihrer Freundschaft zu machen. Sie war damals gerade von einem Einsatz zurückgekehrt, und immer, wenn sie an seinen unzeremoniellen Antrag zurückdachte, meinte sie, wieder den Staub zu schmecken, den sie den ganzen Tag geschluckt hatte und der in jede Pore ihres Körpers gekrochen war. »Hättest du nicht wenigstens warten können, bis ich geduscht habe?«, hatte sie ihn überrascht, aber auch überglücklich gefragt, und er hatte nur gelacht und verlegen mit den Schultern gezuckt. »Ich konnte nicht warten.«
Später erfuhr sie, dass eine Falschmeldung über ihren Trupp eingegangen war, dass sie als vermisst gegolten hatten, und sie hatte eine Ahnung davon bekommen, was in ihm vorgegangen sein musste. Er hatte ihr nie gesagt, dass er sie liebte. Aber er besaß eine einzigartige Gabe, es ihr zu zeigen. Sie hatte sich an ihn anlehnen können. Geborgenheit fühlen, wie sie sie seit dem Verlust ihrer Kindheit nicht mehr gespürt hatte. Es gab nie Pläne für ein normales Leben zwischen ihnen. Sie waren beide nicht geschaffen für ein Eigenheim mit Kindern. Sie hatten andere Träume gehabt. Andere Abenteuer, die auf sie warteten.
Es ist noch immer möglich.
War es das?
Sie vertraute ihrer inneren Stimme nicht mehr. Und sie wusste, dass sie recht daran tat, als sie Chris wenige Stunden später in seinem Krankenhausbett sah: den Schmerz in seinem Gesicht, die eingefallenen Wangen und die unnatürliche Blässe. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Baby, es tut gut, dich zu sehen«, sagte er leise, und etwas von dem Chris, den sie kannte, blitzte in den Augen des Mannes vor ihr auf. Sie zwang sich, nicht auf seine Beine zu starren, die nicht mehr da waren. Sie beugte sich vor und küsste ihn sanft auf den Mund. Schmeckte seinen Atem, seine Lippen, lehnte sich gegen seine Hand, die auf ihrer Wange verharrte, diese Hand, die ihren Körper so wunderbar liebkosen konnte.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Warum sollte
dir
etwas leidtun?«, fragte sie leise.
»Ich musste dich einfach noch einmal sehen.«
Sie atmete gegen den plötzlichen Schmerz an, gegen die Tränen, und sah abrupt zum Fenster hinaus, in dem sich die frühe Morgensonne spiegelte. »Du wirst mich verdammt oft sehen in Zukunft, mehr als dir lieb ist«, sagte sie schließlich und versuchte, etwas Leichtes, Zuversichtliches in ihre Stimme zu legen, aber es verlor sich in dem Moment, als sie erneut seinem Blick begegnete. Der Endgültigkeit darin.
»Nein«, erwiderte er nur. »Und du weißt es.«
Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt, geschlagen, um ihn zur Vernunft zu bringen, doch sie blieb wie erstarrt stehen. Hilflosigkeit
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