Die Marionette
Rittmer hat eine langandauernde, wiederholte und extreme Traumatisierung erlebt. Das entspricht dem Typ- II -Trauma, das nicht nur komplizierter zu behandeln ist, sondern auch schwerwiegendere Störungen auslöst.«
Mayer sah, dass Martinez schweigend und mit ernstem Gesicht zuhörte. In der US -Armee litten die Soldaten nach den langen Einsätzen zuerst im Irak und dann in Afghanistan vorwiegend unter diesem Trauma-Typ, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie trotz ihrer schweren Erkrankung kaum Gelegenheit bekamen, ihre Dienstzeit vorzeitig abzubrechen. Auch bei Katja war die posttraumatische Belastungsstörung über mehrere Jahre nicht behandelt worden – wenn auch aus anderen Gründen.
»Sie hat sich immer wieder belastenden Situationen ausgesetzt«, fuhr Günther in seinen Erläuterungen fort, »und das hat letztlich zu der Chronifizierung geführt.«
Martinez formte bei diesen Worten mit seinem Mund lautlos »Somalia«. Mayer nickte und fragte sich gleichzeitig, ob sie es hätten verhindern können, wenn sie es gemerkt hätten. Inwieweit sie selbst traumatisiert gewesen waren von den Geschehnissen.
»Nicht jeder Soldat leidet unter einer PTBS «, bemerkte Günther, als hätte er Mayers Gedanken gelesen. »Frühe negative Lebenserfahrung, familiäre Instabilität sowie das Fehlen sozialer Unterstützung können die Anfälligkeit um ein Vielfaches steigern.« Er räusperte sich erneut. »Wir haben Katja Rittmers persönliches Umfeld eingehend beleuchtet und schließlich auch ihre Mutter kontaktiert.«
Mayer horchte auf. Katja hatte nie über ihre Familie geredet. Das wurde ihm in diesem Moment bewusst. »Wo lebt ihre Mutter?«, fragte er.
»In einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb«, erwiderte Günther. »Ich war selbst dort.« Eine seltsame Schwere begleitete die Worte des Psychologen, die sowohl Mayer als auch Martinez aufhorchen ließ.
»Was ist passiert?«, fragte Mayer.
»Es ist eine traurige Geschichte.« Günther seufzte. »Katja Rittmer ist das Resultat einer Vergewaltigung. Ein Angehöriger der ehemaligen französischen Besatzungstruppen hat ihre Mutter nach einem Tanzabend auf dem Nachhauseweg überfallen. Ruth Rittmer war damals siebzehn Jahre alt.«
Mayer blickte rundherum in geschockte Gesichter. Niemand sagte etwas. »Wusste Katja davon?«, fragte er schließlich.
»Ihre Mutter hat es ihr angeblich nie erzählt, aber …«
Sie erfuhren die ganze Geschichte. Der Soldat war nie belangt worden und nach Ende seiner Dienstzeit nach Frankreich zurückgekehrt. Die streng katholische Umgebung, in der die Rittmers lebten, ließ nicht einmal den Gedanken an eine Abtreibung zu. Ruth Rittmer wurde stattdessen gedrängt, das Kind gleich nach der Geburt wegzugeben. Sie wehrte sich dagegen und zog ihre Tochter auf Kosten der eigenen sozialen Integration groß.
»Ruth Rittmer lebt noch heute auf dem Hof, den sie damals schon mit ihrer Mutter und ihrem Vater zusammen bewirtschaftet hat. Katja ist dort aufgewachsen.«
»Was haben Sie der Mutter über die aktuelle Situation erzählt?«
»So gut wie nichts. Ich wollte von ihr vor allem wissen, wozu sie ihre Tochter für fähig hält.«
»Und?«
Lars Günther schüttelte resigniert den Kopf. »Sie konnte nichts dazu sagen. ›Meine Tochter hat sich sehr verändert in den vergangenen Jahren‹, war das Einzige, was sie dazu bemerkt hat. Katja sei aggressiver als früher gewesen, gleichzeitig emotional abgestumpft. Es hat angeblich ein oder zwei Vorfälle im Dorf gegeben, bei denen sich Katja mit alten Freunden angelegt hat, sie selbst konnte sich im Nachhinein an nichts erinnern, ist dann aber auch immer seltener nach Hause gekommen.«
»Typische Symptome, oder?«
Günther nickte.
»Haben Sie der Mutter gesagt, das Katja unter PTBS leidet?«
»Erstaunlicherweise wusste sie es schon«, erwiderte der Psychologe zu Mayers Überraschung. »Die Frau ist nach wie vor sehr gläubig und hat mit dem Pfarrer ihrer Gemeinde über die Veränderungen im Wesen ihrer Tochter gesprochen. Der Pfarrer wiederum hatte Kontakt zu einem Kollegen, der selbst in Afghanistan war.«
»Vielleicht ist sie deshalb nicht mehr nach Hause gegangen, weil ihre Mutter sie zu einer Therapie bewegen wollte.«
Günther zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.«
»Wir sollten den Hof der Mutter überwachen lassen«, meldete sich Martinez erstmals zu Wort.
Mayer nickte. »Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
Es schmerzte, all diese intimen Details über
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