Die Marionette
bevor noch Schlimmeres passierte. Irgendwann würde Zeit sein, zu reden. Vielleicht.
***
Brandenburg, Deutschland
Er hatte kein Testament gemacht.
Bender dachte darüber nach, während er beobachtete, wie Katja Rittmer ihr Gewehr reinigte und zusammensetzte. War es dieselbe Waffe, mit der sie auf den Verteidigungsminister geschossen hatte? Er hatte sie gefragt, ob sie ihn auch entführt hätte, wenn sie den Minister getroffen hätte. Sie hatte nicht geantwortet, ihn nur angesehen, und er hatte gefürchtet, sie würde ihm den Mund wieder zukleben. Stattdessen hatte sie ihm etwas zu trinken gebracht.
Der Gewehrlauf schimmerte blauschwarz im Sonnenlicht, als sie aufstand, an eins der Fenster trat und hinaussah. Würde sie ihn töten? Sie waren noch immer in dem Haus im Wald. Einer verlassenen Villa, von deren hohen Decken der Stuck blätterte und an deren Wänden nacktes Mauerwerk durch Schichten alter Farbe und Tapeten blitzte. Sie hatte den halben Vormittag über ihrem Laptop gesessen, im Schneidersitz auf den schmutzigen Holzdielen. Kein Wort mit ihm gewechselt. Dann war sie gegangen und lange fortgeblieben.
Er räusperte sich, und sie sah zu ihm hinüber. Ein kühler, prüfender Blick. »Ich habe Hunger«, sagte er.
Ohne die Miene zu verziehen, griff sie in die Tasche ihrer Armeejacke und warf ihm etwas in den Schoß. Einen Müsliriegel. Er griff mit seiner freien Hand nach der bunten Verpackung. Seine andere Hand war an ein altes rostiges Heizungsrohr gefesselt. Er riss die Verpackung mit den Zähnen auf und spuckte das Plastik vor sich auf den Boden. Der Geruch von Rosinen und Haselnüssen stieg ihm in die Nase, und er starrte auf die klebrige Süßigkeit in seiner Hand. Seine Assistentin hatte immer eine Schale mit Rosinen und Haselnüssen auf dem Schreibtisch stehen. Vogelfutter, hatte er sie geneckt. Nervennahrung, hatte sie gekontert. Er fragte sich, ob Vombrook schon Probe gesessen hatte in seinem Büro, abends, nachdem alle gegangen waren. Sich zurückgelehnt hatte auf dem Lederstuhl an seinem Schreibtisch und den Ausblick über die Werft und die Elbe aus dem Fenster genossen hatte, in seinem Telefonregister geblättert und schließlich Juliane angerufen hatte, um ihr in seiner ruhigen Art zu versichern, wie leid ihm alles tat. Wie sehr er hoffte, dass alles gut ausging. Ob er etwas für sie tun könne.
Bender ballte unwillkürlich seine gefesselte Hand zur Faust. Das kalte Metall der Handschelle, mit der Katja Rittmer bei ihrer Ankunft in der Villa den Kabelbinder ersetzt hatte, drückte sich dabei schmerzhaft in seine Haut, auf die wund gescheuerten Stellen, doch er stellte fest, dass der Schmerz guttat, dass er ablenkte von der Panik, die in ihm lauerte und die er ebenso wenig zulassen wollte wie die Angst. Er biss von dem Müsliriegel ab. Kaute. Zwang sich zu schlucken und konzentrierte sich auf den Staub und Dreck vor ihm auf dem Boden, auf die vertrockneten Blätter und Putzreste. Auf Katja Rittmers Turnschuhe. Was wusste er über sie? Sie war Soldatin und hochgradig traumatisiert aus Afghanistan zurückgekehrt. Er musste sie zum Reden bringen. Sie aus der Reserve locken. Er setzte sich auf. »Es gibt mehr als genug Leute in Berlin, denen Sie einen Gefallen tun, wenn Sie mich umbringen«, bemerkte er.
Langsam wandte sie den Kopf in seine Richtung. »Wenn du stirbst, wird sich niemand darüber freuen«, erwiderte sie so ruhig, dass ihm schlecht wurde. »Das verspreche ich dir.«
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28. Mai
Berlin, Deutschland
W ir müssen davon ausgehen, dass Katja Rittmers posttraumatische Belastungsstörung bereits chronische Züge angenommen hat. Eine vollständige Heilung wird es vermutlich nicht mehr geben können.« Mit diesen Worten überreichte Lars Günther, einer der beiden Psychologen des Krisenstabs, das Gutachten, das er zusammen mit seinem Kollegen über Katja erstellt hatte. Eric Mayer blätterte die ersten Seiten durch. »Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«
»Nun ja«, der rotblonde Psychologe räusperte sich, »wir unterscheiden bei der PTBS in der Regel zwischen zwei Trauma-Typen …«
Mayer nickte. »Typ I und Typ II .«
Günther warf ihm einen erleichterten Blick zu. »Sie sind mit dem Thema vertraut, das ist gut. Innerhalb der Bundeswehr haben wir es vorwiegend mit dem Typ-I-Trauma zu tun, das durch ein einmaliges Ereignis mit akuter Lebensgefahr für den Betroffenen ausgelöst wird.«
»Was aber bei Katja Rittmer nicht der Fall ist«, warf Mayer ein.
»Das ist richtig. Katja
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