Die Marionette
nächsten vierundzwanzig Stunden.
Er notierte sich ein paar Stichworte zu Katja Rittmer. Ein paar Fragen, die er Mayer stellen wollte, doch als er in der kurzen Pause, die sie nicht viel später hatten, mit einem Kaffee in den Konferenzraum zurückkam, telefonierte sein deutscher Kollege gerade. Mit dem Telefon am Ohr stand er am Fenster, die freie Hand in der Tasche seiner Anzughose, und etwas in seiner ganzen Haltung, der Art, wie er lächelte, während er sprach und seinen Blick aus dem Fenster schweifen ließ, ließ nur einen Schluss zu. Martinez nahm einen Schluck von seinem Kaffee und fragte sich, wer
sie
wohl sein mochte.
***
Brandenburg, Deutschland
Die Dämmerung kroch in den Raum und vertrieb die Schatten. Katja betrachtete Bender, der mit geschlossenen Augen an der schmutzigen Wand lehnte. Die Bartstoppeln auf seinen eingefallenen Wangen waren so grau wie die alten, abgelaufenen Dielen des Fußbodens. Die Fotos, die sie von Bender gesehen hatte, ließen ihn jünger, vitaler erscheinen. Sie zeigten sein Alter nicht, auch nicht die lauernde Müdigkeit. Ein Sonnenstrahl stahl sich durch das schmutzige Glas des Fensters, berührte seine Hände und ließ den goldenen Ehering an seinem Ringfinger aufblitzen. Seine Handgelenke waren blutunterlaufen und aufgescheuert von dem Kabelbinder, mit dem sie ihn gefesselt hatte. Sie wusste, dass er Schmerzen hatte. Sie wandte den Blick ab, sah zum Fenster hinaus, auf dessen Brett sie saß. Es sollte ihr egal sein, aber so funktionierte es nicht.
Sie zündete sich eine Zigarette an und beobachtete den Rauch, der sich im Sonnenlicht auflöste, hörte, wie Bender sich bewegte. Wie seine Füße über den Holzboden scharrten. Wenn sie ihn hier zurückließ, würde er sterben. Sie würden ihn nicht rechtzeitig finden. Es gab keinen Weg mehr zu diesem Haus, nichts, das darauf hinwies, dass sie hier waren. Sie stellte sich vor, wie es sein würde, einfach wegzufahren, ohne sich umzusehen. Irgendwann würden sie die Suche nach ihm aufgeben.
Irgendwann würden sie wissen, dass er tot war. Tot sein musste.
»Ich bring dich um, wenn du nicht tust, was ich dir sage«, hatte sie ihm zugeraunt, als sie ihn aus dem Atlantic entführt hatte.
Jetzt sah er sie an.
Sie spürte es.
Langsam drehte sie den Kopf. Ihre Blicke begegneten sich, und sie fragte sich, wie sie ihn jemals hatte für schwach halten können. Für alt. Er hatte noch lange nicht aufgegeben. Er kämpfte. Gegen den Schmerz, den Durst. Gegen sie.
Sie stand auf und trat ihre Zigarette aus, machte einen Schritt auf ihn zu. Er hielt ihrem Blick stand. Mit einer Handbewegung riss sie ihm das Klebeband vom Mund. Er atmete scharf ein vor Schmerz, aber er starrte sie weiter schweigend an.
»Was willst du?«, fragte sie barsch.
Langsam ließ er den Atem wieder entweichen, lehnte den Kopf zurück an die Wand und fuhr sich mit der Zunge über die aufgerissenen Lippen. Er sagte nichts. Wütend ging sie zur Tür hinaus. Die Frühlingssonne streichelte sie. Irgendwo sang ein Vogel. Und dann hörte sie aus dem Haus ein Geräusch. Das letzte Geräusch, mit dem sie gerechnet hätte. Sie hörte Bender lachen.
***
Hamburg, Deutschland
Valerie strich nachdenklich mit dem Finger über das Display ihres Smartphones, bevor sie es zurück auf ihren Schreibtisch legte. Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, dem Gutachten, das sie gerade verfasste, doch es gelang ihr nicht, sich darauf zu konzentrieren. Eric Mayers Stimme klang ihr noch im Ohr. Er hatte angerufen. Einfach so. In einer Besprechungspause. Sie hatten Belanglosigkeiten ausgetauscht, miteinander gelacht und plötzlich geschwiegen, wie es Menschen in ihrer Situation taten, wenn sie um ihre Sehnsüchte wussten und von der Unmöglichkeit, sie einander mitzuteilen.
Sie hatte sich schließlich einen Ruck gegeben. »Es ist schön, dass du angerufen hast.«
»Es tut gut, deine Stimme zu hören«, hatte er geantwortet.
Sie blickte auf den Monitor ihres Computers und fragte sich, ob sie sich wiedersehen würden. Sie hatte Eric nichts von ihrem Streit mit Marc erzählt. Nichts davon, dass Sibylle Vieth am Morgen nach einem erneuten Zusammenbruch ins Krankenhaus gebracht worden war, wo die Ärzte die Geburt eingeleitet hatten, weil sie um die Gesundheit des Kindes fürchteten. Sibylle hatte schließlich einen gesunden Jungen zur Welt gebracht. Und sie hatte nicht nach Katja gefragt. Sie hatte die Schlagzeilen in den Sonntagszeitungen gelesen und gewusst, dass er sie finden musste,
Weitere Kostenlose Bücher