Die Marketenderin
über die neue Situation. »Jetzt zweifelt niemand mehr daran, daß wir uns auf dem Rückzug befinden«, sagte er. »Napoleon hat wieder schöne Worte dafür gefunden: ›Wir haben nun genug für den Ruhm getan, wir sind jetzt in der Lage, auch für die Sicherheit was zu tun.‹ Aber was für eine Sicherheit!«
Juliane zog die Augenbrauen zusammen.
»Die Sicherheit, daß es auf der alten Heerstraße für Mensch und Tier nichts zu beißen geben wird und wir alle des Hungers sterben werden, wenn sich nicht ein gnädiger Gott unser erbarmt.«
Johannes deutete fragend auf ihren Wagen. »Du hast doch so viele Vorräte mitgenommen!«
»Weggegeben habe ich alles!« schnaubte Juliane. »Und nicht aus der Güte meines Herzens, das kannst du mir glauben!«
»Es blieb uns nichts anderes übrig«, sagte der Korporal leise. »Es ging um unser Leben, wir haben alles versucht …«
Er blickte Juliane nicht an, die mit steinerner Miene auf dem Bock saß.
»Ich habe jemanden erschossen«, sagte sie so gleichmütig wie möglich. »Ich dachte, daß ich damit andere abhalten kann sich über meinen Wagen herzumachen. Weißt du, so wie Napoleon das auch macht«, sie dachte einen Augenblick nach, dann fiel ihr das Wort wieder ein: »Ich habe ein Exempel statuiert. Aber es hat nicht geholfen.«
»Wen hast du erschossen?« fragte Johannes betroffen. Er hatte Juliane zwar schon öfter mit der Waffe in der Hand gesehen, aber nie geglaubt, daß sie wirklich abdrücken würde.
»Eine Frau.«
»Mit einem Kind an der Brust«, murmelte Matthäus.
»Da fahren sie nun«, sagte Juliane bitter, »mit Gold und Silber, Pelzen und Edelsteinen und mit meinem gesamten Vorrat.«
Johannes starrte Juliane fassungslos an und Matthäus rückte so weit zur Seite, daß er beinahe vom Bock gefallen wäre.
Das milde Herbstwetter hielt bis zum 28. Oktober an, dem Tag, an dem die Große Armee wieder die Straße nach Smolensk erreicht hatte. Die Nächte waren schon frostig gewesen, aber jetzt machte der eiskalte Wind den Marschierenden auch tagsüber zu schaffen. In seinen Pelzmantel gehüllt ritt Oberst von Röder schweigend neben Gerter her, als das Schlachtfeld von Mosaisk in Sichtweite kam.
In Trauer gehüllt ist diese Gegend, dachte Johannes, als er die Menge der Toten sah, die seit 52 Tagen unbeerdigt geblieben waren und kaum noch ein menschliches Aussehen besaßen. Unvorstellbar, daß auf den Feldern, die von tausenden von Wagen und Pferden zertreten waren, jemals etwas angebaut worden war oder jemals wieder etwas wachsen könnte, unvorstellbar, daß die verwüsteten Forste jemals Schatten gespendet hatten.
Entsetzt sah Juliane um sich, als sie sich Borodino näherten. Auf allen Seiten erblickte sie nichts als Leichen von Menschen, zu Knäueln verwirrt mit den tausenden von Pferdekadavern. Von Hunden und Raubvögeln benagte Gebeine ragten in die Luft, überall lagen Trümmer von Waffen, Helmen und Kürassen umher.
Juliane sprang vom Wagen und übergab sich am Straßenrand. Während sie noch würgte, hörte sie ein kleines Geräusch, das wie ein Hilfeschrei von weit her klang.
Sie zwang sich aufzublicken und sah nur wenige Meter vor sich einen Mann in der Uniform der Württemberger, der versuchte auf sie zuzukriechen.
»Helfen Sie mir!« röchelte er. Juliane übergab sich noch einmal, als sie die verstümmelten Beine des Soldaten sah. Ohne nachzudenken packte sie ihn und, erstaunt, wie leicht er war, hob sie ihn in ihren leeren Wagen.
»Kümmere dich um ihn«, bat sie Matthäus und setzte sich selber wieder auf den Bock. Wenn ich diesem Mann das Leben rette, dann verzeiht mir Gott vielleicht den Mord, dachte sie. Sie empfand immer noch keine tiefen Schuldgefühle, sondern hatte Angst vor der Rache Gottes. Matthäus hatte den Vorfall mit keinem Wort mehr erwähnt, aber sie merkte, daß er an nichts anderes denken konnte, wenn er sie ansah. Seine liebe, treue Assenheimerin ist zur eiskalten Mörderin geworden, dachte sie bitter. Ob es ihm jetzt leid tut, daß er mich geheiratet hat? Er rührt mich nicht mehr an, erschauert, wenn ich ihm zu nahe komme. Ich habe seine Achtung verloren, und das ist sehr schlimm.
Matthäus flößte dem Verwundeten Branntwein ein und lobte die Voraussicht seiner Assenheimerin, die ein kleines Fäßchen, eine Notration von Lebensmitteln und etwas Stroh unter dem Bock versteckt hatte. Dieser Schatz war den Plünderern entgangen.
Langsam kam der Soldat zu sich. Er erzählte, daß ihm am Tag der großen Schlacht eine
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