Die Marketenderin
der Süden ist bisher vom Krieg fast nicht berührt worden.«
In den ersten drei Tagen schien Napoleons Rechnung aufzugehen. Unbehelligt von außen quälte sich der lange Zug über die Heerstraße. Aber die Soldaten, die voranmarschierten, ahnten nicht, welche Tragödien sich hinter ihnen abspielten. Juliane erlebte, wie der Karren vor ihr unter seiner Belastung brach und den Weg versperrte. Sie zügelte ihr Pferd und Matthäus sprang vom Bock und setzte sich mit vorgehaltener Waffe hinten auf den Marketenderwagen.
»Werft den Plunder ins Feld und spannt die Pferde aus, wir wollen auch vorankommen!« klangen erboste Stimmen, als der Weg nicht freigemacht wurde. Der Eigentümer des Karrens, ein kleiner drahtiger Franzose, fluchte und tobte und versuchte seine Beute zu verteidigen, als sich wie auf Kommando ein Haufen Menschen auf seinen Karren stürzte. Wie Ameisen auf ein Stück Fleisch, dachte Juliane und sah ungläubig, wie innerhalb von Sekunden der Franzose zu Boden geschlagen, jeder Gegenstand entfernt, der Wagen selbst zerstückelt und ins Feld geworfen wurde. Sie warf noch einen Blick auf den kleinen Franzosen, der am Wegesrand auf den Knien lag, sich die Haare raufte und kläglich schrie. Dann ging es weiter.
Solche Szenen wiederholten sich und sorgten dafür, daß der Zug nur mühsam vorankam und viele Flüchtende bereits in den ersten Tagen des Rückzugs ihre Beute an der Straße zurücklassen mußten.
Schon nach wenigen Tagen machten die Russen Napoleon einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Den kaiserlichen Truppen war es zwar unter großen Mühen und Opfern zunächst noch gelungen, das Städtchen Malojaroslacz in Besitz zu nehmen, aber nach diesem Sieg konnte auch Napoleon nicht mehr leugnen, daß ihm die Russen an moralischer und materieller Kraft weit überlegen waren.
Bei Malojaroslacz hatte er die Stellung des russischen Heeres persönlich besichtigt und war von dessen Stärke und wütender Kampfeslust so erschrocken, daß er noch vor dem Erreichen der Stadt Kaluga befahl zurückzukehren und wieder die westliche Straße von Moskau nach Smolensk einzuschlagen.
Es ging so langsam voran, daß Juliane Mühe hatte auf dem Bock nicht einzuschlafen. Plötzlich wurde sie durch wüstes Geschrei hinter sich aufgeschreckt.
»Matthäus?« rief sie laut, aber es kam keine Antwort. Rasch stellte sie sich auf den Bock und sah eine Frau auf den Marketenderwagen steigen. Sie zog ihre Pistole. »Weg da«, brüllte sie, »oder ich schieße! Matthäus!«
Verzweifelt blickte sie um sich und fluchte, als sie den Korporal etwa fünfzig Meter weit weg auf dem Feld hocken sah. Dieser verdammte Durchfall! Warum hatte er auch den Bohnenkrauttee nicht getrunken! Sie sprang vom Bock und lief nach hinten. Wahllos schlug sie mit dem Pistolenknauf auf Nachziehende ein, die sich ebenfalls hochhangelten. Außer sich vor Wut sah Juliane, daß sich die Frau eine Wurstkette um den Hals gehängt hatte und einen Sack mit Dörrobst in der Hand hielt.
Die Frau stand am Rand des Wagens. Sie blickte Juliane in die Augen und griff plötzlich mit der freien Hand in Magenhöhe in ihren Mantel. Sie oder ich, ging es Juliane noch durch den Kopf. Dann drückte sie ab.
Der Schuß gellte ihr noch in den Ohren, als die Frau vom Wagen stürzte. Aus ihrem Mantel fiel ein Säugling. Er rollte vor die Hufe eines Pferdes und wurde augenblicklich zertreten.
»Mein Gott!« hörte Juliane Matthäus' Stimme hinter sich. Sie wandte sich um und sah ihn mit so wilden Augen an, daß er zurückschrak.
Er warf sich über die Frau, wollte sein Ohr an ihr Herz legen, zögerte und deckte sie sanft mit ihrem Mantel zu, als er in ihre toten Augen blickte. Juliane blieb still stehen und sah teilnahmslos zu, wie eine Horde von hinter ihnen Wandernden den Wagen erstürmte und in Windeseile ausräumte. Dann sackte sie in sich zusammen.
Matthäus hob sie auf, legte sie in den leeren Wagen und setzte sich selbst auf den Bock. Er war wie benommen, konnte keinen klaren Gedanken fassen und murmelte nur immer wieder vor sich hin: »Warum hat sie das getan, warum hat sie das getan!«
Juliane lag im Wagen auf dem Rücken und starrte auf die schadhafte Plane über sich. Ich bin eine Mörderin, sagte sie zu sich und mehr als die Tat selbst entsetzte sie, daß kein Schuldgefühl in ihr aufkommen wollte.
Sie saß bereits wieder neben Matthäus auf dem Bock, als ein paar Stunden später Johannes Gerter zu ihnen zurückritt. Er informierte den Korporal und seine Frau
Weitere Kostenlose Bücher