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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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überleben würde.
    Johannes war mit Felix dem 3. Armeekorps wieder vorausgeritten und am 1. November in Gziat angekommen. Es gab kein einziges Haus mehr, das den beiden Schutz vor dem Schneesturm gewähren konnte, und so schufen sie sich ein Lager unter einem stehengebliebenen, inzwischen natürlich leeren Proviantwagen. Felix hieb von dem Gefährt einige Splitter ab und unterhielt ein sparsames Feuer, das aber kaum wärmte. Vor Erschöpfung schliefen beide bald ein.
    Das Wiehern seines Pferdes weckte Johannes. Er richtete sich halb auf und sah einen italienischen Soldaten sein Pferd besteigen. Er rief ihn an, der Soldat richtete sein Gewehr auf Johannes und hätte abgedrückt, wenn nicht ein anderer Schuß gefallen wäre.
    »Danke«, sagte Johannes schwer atmend, »danke, daß du deinen Schwur gebrochen hast, nie wieder einen Menschen zu töten.«
    »Es war Notwehr – ebenso wie damals«, antwortete Felix, der Gerter seine Pistole zurückgab und an jenen Tag vor fünf Jahren dachte, an dem er Gerter unter südlicher Sonne kennengelernt hatte und sein Diener geworden war.
    Wer immer noch geglaubt hatte, der Kaiser Frankreichs könne über das Wetter gebieten, mußte spätestens jetzt seine Meinung revidieren. Der russische Winter zeigte sich von seiner strengsten Seite. Bereits am 4. November setzte ein starker Schneefall ein, der den Marsch der entkräfteten Soldaten noch mehr erschwerte, und in den folgenden Tagen fiel die Temperatur auf unter minus 12 Grad.
    Zum Teil schlecht bekleidet, meist ohne Schuhe, zogen die unglücklichen Krieger langsam über die Schneewüste hin. Sie tranken geschmolzenes Schneewasser und hatten nichts weiter zu essen als hart gefrorenes rohes Pferdefleisch und ein paar Stücke Zwieback. Russische Gefangene gab es nicht mehr. Die letzten waren schon vor Tagen verhungert oder erfroren.
    Die Soldaten mußten sich abends erschöpft auf Eis und Schnee niederstrecken, fanden nirgends eine Handvoll Stroh, die sie sich unter den Kopf legen konnten und kaum irgendwo Holz. Wer sich aus den Brettern der liegengebliebenen Wagen ein Feuer machte, litt nicht weniger als diejenigen, die ohne jegliche Wärme die Nacht verbrachten: Auf der einen Seite schmerzte die Hitze der schnell auflodernden Flammen, während auf der anderen der Frost doppelt schneidend empfunden wurde. Außerdem lebte durch die Wärme das Ungeziefer wieder auf, das die meisten unterwegs befallen hatte und quälte die erschöpften Marschierer bis zur Verzweiflung.
    Vielen waren am Morgen Hände und Füße erfroren, so daß sie nicht mehr aufstehen konnten und manchmal war nur an einer Waffe, die aus einem Schneehügel ragte, zu erkennen, daß darunter ein Mensch lag.
    Als Juliane sah, wie viele Soldaten tagsüber halb tot am Rande der Heerstraße lagen, erinnerte sie sich, wie sie im brennenden Wald auf dem Hinmarsch versucht hatte, das Leben der Liegengebliebenen zu retten. Da hätte ich nicht so gleichgültig vorbeifahren können, dachte sie, als einer der Sterbenden ihr einen flehenden Blick zuwarf.
    Tag für Tag wurde es kälter und immer mehr Menschen erfroren auf ihren Lagerstätten. Wer sich erheben konnte, sah, wie sein Atem zu Eis wurde, das sich in den langen wilden Bärten festsetzte. Jeder Marschierende schleppte sich mit großen vereisten Schneeklumpen an den Füßen weiter.
    Jedes Lager glich einem Schlachtfeld und Reihen von erfrorenen Menschen säumten die Straßen. Der starke Nordwind ließ die Temperatur auf minus 27 Grad fallen. Noch schneller als die Menschen starben aber die Pferde. Abgemagert und ermattet erlagen sie zu tausenden der Kälte. Es gab keine Möglichkeit, ihre Hufe beschlagen zu lassen. Sie fanden auf der Straße keinen sicheren Tritt und wenn sie mit Reitern oder Gepäck stürzten, waren sie nicht mehr in der Lage aufzustehen. Eine einzige Kanone mußte inzwischen von zwölf bis sechzehn Pferden geschleppt werden.
    Auch Georg Mössners Pferd war zusammengebrochen und die Schläge, die er dem Pferd versetzte, trugen nur dazu bei, daß dieses schneller starb.
    »Was machen wir jetzt?« Clärle sah ihn unter der Pelzkapuze ihres weiten Mantels ratlos an.
    »Selber ziehen«, erwiderte Mössner grimmig, aber es stellte sich heraus, daß der Wagen zu schwer beladen war. Hinter ihnen wurde bereits gebrüllt, daß sie den Weg versperrten. Sie sollten sich gefälligst beeilen. Einige zerlumpte Gestalten hoben drohend Knüppel oder Gewehre, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Schließlich trennte

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