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Die Marketenderin

Die Marketenderin

Titel: Die Marketenderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Kanonenkugel beide Beine verstümmelt hatte. »Niemand half mir. Seit zwei Monaten habe ich mich nun am Ufer der Kalockta herumgeschleppt und von Kräutern, Wurzeln und einigen Stücken Zwieback gelebt, die ich in den Tornistern der Toten fand. Nachts schützte ich mich im Bauch toter Pferde vor Frost, und solange das rohe Fleisch dieser Tiere noch genießbar war, konnte ich es essen. Gott segne die Pferde«, sagte er leise und erzählte, daß er das rohe Pferdefleisch zur Linderung der Schmerzen auf seine Wunden gelegt habe.
    »Es hat mich vor Brand geschützt und war so gut wie ärztliche Hilfe. Aber ich wußte, daß ich nicht mehr lange durchhalten würde. Als ich euch heute in der Ferne erblickte, raffte ich meine Kräfte zusammen und schleppte mich so nahe an den Weg, daß man meine Stimme hören konnte.«
    Ein lauter Knall ließ ihn zusammenschrecken.
    »Angriff?« fragte er flüsternd.
    Matthäus schüttelte den Kopf.
    »Nur ein Pulverwagen«, sagte er. »Die werden jetzt nach und nach in die Luft gesprengt, weil es zuwenig Pferde gibt, um sie fortzubewegen. Sie sollen ja nicht in die Hände des Feindes fallen.«
    Am 1. November wurde der Wind heftiger, blähte die Plane des Wagens auf und vom eisgrauen Himmel fielen die ersten Flocken. Im bald darauf einsetzenden Schneetreiben konnte Juliane kaum noch die Wagen vor sich erkennen. Sie dachte an nichts mehr, nur daran, daß sie jeder Meter der Heimat ein Stückchen näher bringen würde.
    Der Soldat mit den verstümmelten Beinen, der so lange in einer von Toten übersäten Wildnis ausgehalten hatte, war in der Nacht in ihrem Planwagen gestorben. Als sie ihm die Augen geschlossen hatte und sein friedliches Gesicht sah, stieg Neid in ihr auf. Er hatte es hinter sich, war bei Gott und den Engeln, während sie in dieser eiskalten Hölle zum Überleben verdammt war. In jener Nacht dachte sie an das Kind, von dem sie jetzt genau wußte, daß es in ihr wuchs, und um dessentwillen sie nicht aufgeben durfte. Sie hatte Matthäus nichts davon gesagt, wollte ihn nicht zusätzlich mit der Sorge um das Ungeborene belasten und sie war dankbar zu wissen, daß sie ihrem Mann wenigstens ein Kind schenken konnte. Gott hat es so eingerichtet, daß ich mit Johannes nicht zusammenkam, überlegte sie. Hätte sie auch die Kraft zum Weiterziehen gehabt, wenn sie nicht gewußt hätte, wer der Vater ihres Kindes war? Nach diesem Gedanken verbot sie sich weiteres Denken. Jedes Mal, wenn ihr Geist wieder rege werden wollte, sagte sie schnell ein Gebet auf.
    »Les Cosakes, les Cosakes«, hörte sie die inzwischen wohl vertrauten Angstschreie, aber sie blieb auf dem Bock sitzen und beobachtete, wie eine kleine Truppe wilder Reiter vor ihr Leute niederstach, Wagen plünderte und davongaloppierte.
    Matthäus, der nach vorn gegangen war, um herauszufinden, wie es bei den Regimentern aussah, kehrte so schnell zurück, wie es sein Bein erlaubte.
    »Alles ist aufgelöst, es gibt keine Disziplin mehr«, sagte er fassungslos zu Juliane, als er wieder neben sie auf den Bock stieg. »Jeder denkt nur noch an sich und viele Soldaten haben ihre Waffen weggeworfen, weil sie ohne Gewehr besser marschieren können.«
    »Kannst du es ihnen verdenken?« fragte Juliane.
    Zum Entsetzen der Nachziehenden wurden die auf dem Hinmarsch bereits mehr als halb verwüsteten Städte und Dörfer auf dem Rückmarsch gänzlich den Flammen preisgegeben. Den Gerüchten zufolge hatte Napoleon seine Garden dazu aufgefordert, alles niederzubrennen und zu zerstören, nachdem sie sich selber an den wenigen übriggebliebenen Vorräten gütlich getan hatten. Das schuf böses Blut und viele Franzosen, die mit den nachfolgenden Wagen mitzogen, wurden von den wütenden Angehörigen anderer Nationen zu Tode geprügelt.
    Nun konnte man den Pferden nicht einmal mehr das faule Stroh der Dächer als Futter vorwerfen und mußte auf dem hart gefrorenen Boden lagern. Matthäus und Juliane gehörten zu den wenigen Glücklichen, die in einem Wagen schlafen konnten, und als sie eng aneinander liegend herzzerreißende Schreie hörten, zogen sie sich die Pelze über den Kopf. Juliane hatte gesehen, wie die rund 3000 russischen Kriegsgefangenen, die man aus Moskau mitgeschleppt hatte, auf einem kleinen mit Schnee und Eis bedeckten Raum zusammengepfercht wurden, und die Soldaten ihnen wie wilden Tieren Stücke rohen Pferdefleischs zuwarfen. Um dieses Fleisch rissen sich jetzt die Russen und wer nichts erhielt, wußte, daß er die Nacht nicht

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