Die Marketenderin
der rechte Augenblick, seine Geschichte zu erzählen.«
Geratter aus Gewehren ließ sie zusammenfahren. Gerter stürzte zum Fenster und sah vorsichtig hinaus. Eine kleine Gruppe von französischen Soldaten lag erschossen auf der Straße, die Kosaken waren schon weitergeritten, und hoben ihre Gewehre wie zum Gruß, als Felix an ihnen vorbeieilte.
Er kehrte wenig später mit einigen jungen russischen Offizieren zurück, die die Stelle der Kosaken an den Türen einnahmen, und hockte sich bei Gerter und von Röder nieder.
»Unsere neue Leibwache – die Ordonnanzen von General Tschernitschef persönlich«, informierte er die beiden Offiziere.
»Können Sie einem alten Militärhasen sagen, was hier vorgeht?« erkundigte sich Eugen von Röder, der es nicht mehr fertigbrachte, den Diener Gerters zu duzen.
Felix sah sich um, ob sie auch niemand belauschte und flüsterte: »Man hält mich für einen rechtschaffenen Bürger Wilnas, also bin ich zur Wohnung des Generals geeilt und habe meiner Empörung über die Zustände im Lazarett der württembergischen Soldaten Ausdruck gegeben – ein Hinweis auf Völkerrecht und Menschlichkeit war gar nicht nötig.«
Er zog eine Flasche Wodka aus seinem Mantel, öffnete sie und reichte sie dem Generalmajor.
»Mit einem Gruß vom General. Er wird auch noch Decken und Kleidungsstücke schicken, damit die Gefangenen nicht frieren müssen und morgen früh kommt Essen.«
»Ein Wunder«, murmelte von Röder und sah Felix forschend an.
»Kein Wunder«, gab Gerter zurück, »eine hervorragende Ausbildung, damit bringt man's weit.«
»Bis zum Diener!« lachte Felix und streckte sich.
»Bitte«, bat Eugen von Röder, »wir haben doch jetzt Zeit und Muße. Wollen Sie mir nicht verraten, wer Sie sind?«
Felix rieb sich am Kinn, nickte langsam und begann zu erzählen.
Abhängigkeit
Aus dem Tagebuch von Johannes Gerter:
Dezember 1812 bis April 1813
Das Plündern und die Mißhandlungen der zahlreichen Gefangenen, die sich noch stündlich durch neue Ankömmlinge von der Straße von Kowno her vermehrten, dauerte bis zum 15. ununterbrochen fort; an welchem Tage der russische Generalleutnant Herzog Alexander von Württemberg, Bruder des Königs Friedrich, in Wilna eintraf und der bisherigen Unordnung Grenzen setzte. Den 18. traf der Großfürst Constantin mit den Garde-Cürassieren , deren Chef er war, und den 20. der Kaiser Alexander mit seinen übrigen Garden, in Wilna ein. – Aber es fiel bis zur Ankunft des Prinzen von Württemberg und des Kaisers von Rußland niemand ein, für das Loos der vielen tausend Gefangenen auch nur in etwas menschlich einzugreifen und zu sorgen. Ja! man beging noch die Unmenschlichkeit, sie haufenweise von den Straßen – in welchen sie die Mildthätigkeit der Bewohner ansprachen, um nicht Hungers zu sterben – von Cosaken -Patrouillen aufgreifen zu lassen und in öffentliche Gebäude oder Ställe einzusperren, woselbst keinem der Ausgang mehr gestattet wurde: bis sie nach und nach vor Hunger umkamen. Das Aufgreifen in den Straßen wäre noch polizeilich zu entschuldigen gewesen: aber diesen Armen absichtlich Nahrung und Holz zu versagen, war eine Grausamkeit, deren die Geschichte wenig aufbewahrt, und welche der Kaiser gewiß streng an ihrem Urheber geahndet haben würde, wären diese Thatsachen zu seiner Kenntnis gelangt. – Die auf dem Wege nach dem Niemen zahlreich gefangenen und nach Wilna zurücktransportirten Opfer wurden zu diesen gesperrt, um auf gleiche Weise unterzugehen. Auf jeden Fall war dies das geeignetste Mittel, sich einer lästigen Überzahl von Gefangenen zu entledigen! – Gewiß ist, daß in Zeit von vier Monaten 5000 Offiziere und 30.000 Soldaten auf eben gesagte Weise, die Mehrzahl aber durch das in späterer Zeit herrschende epidemische Nervenfieber, in Wilna ihren Tod fanden.
Gerter begleitete Generalmajor von Röder, als dieser am 15. Dezember dem russischen General Herzog Alexander von Württemberg, dem Bruder von König Friedrich, in Wilna seine Aufwartung machte.
Von Röder fühlte sich zwar noch sehr schwach und auch der Arzt riet von einem solchen Besuch ab, aber der Generalmajor, der inzwischen erfahren hatte, wie schlecht es um alle Gefangenen stand, wollte nichts unversucht lassen, um ihre Lage zu bessern. Unter Begleitung der Sauve-Garde, ihrer Leibwache, kamen sie beim Palais an, in dem der Herzog residierte.
Der Oberleutnant wurde gebeten, während der Unterredung in einem Vorzimmer zu warten, und er
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