Die Marketenderin
er die Absurdität eines Krieges, bei dem zwei Schillerfreunde gezwungen waren, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
Er fragte sich, ob Oberst von Röder ihn für tot hielt, ob Matthäus Schreibers Bein geheilt war und ob Felix vernünftig genug war, um nicht jetzt zu versuchen, sich zum verabredeten Treffpunkt durchzuschlagen. Von seinem Standpunkt aus konnte er den Wasserturm gut sehen, ebenso wie das kolossale Kreuz auf der Kuppel der Kirche des heiligen Iwan. Am Tag, an dem Gerter zum ersten Mal eine Möglichkeit sah, den Palast zu verlassen, beobachtete er kopfschüttelnd eine Schar Männer, die das riesige goldene Kreuz der Kirche abmontierten. Wo rohe Kräfte sinnlos walten, dachte er, selbst, was niet- und nagelfest ist, wird weggeschafft, es reicht offensichtlich nicht, Moskau zu erobern, wir müssen der Stadt auch noch ihren Stolz nehmen.
Natürlich labte auch er sich an den Leckerbissen, die er in Küche und Keller des Palasts gefunden hatte, aber er schwor sich, beim Abzug nichts mitzunehmen – außer vielleicht der kleinen Ausgabe von ›Demetrius‹, die war gar zu schön – und alles wieder so herzurichten, wie er es vorgefunden hatte. Vielleicht würde der Hausherr zurückkehren, dann müßte er ihn zum Gefangenen machen, fiel ihm voll Unbehagen ein.
Mit höchst gemischten Gefühlen dachte er auch an die Assenheimerin und versuchte aus seiner Erinnerung den Blick zu verbannen, den sie ihm in der Küche des Gutshauses zugeworfen hatte. Er mußte ihn einfach falsch interpretiert haben. Keine Frau, die so liebevoll mit ihrem Mann umging wie die Assenheimerin mit ihrem Korporal, konnte an einem anderen Mann Interesse haben, sagte er sich. Das hatte er sich in seiner Eitelkeit nur eingeredet. Hatte sie ihn nicht völlig unbefangen in Gegenwart ihres Mannes auf den Mund geküßt, als er dem Ehepaar das Du angeboten hatte? Sie war eben von spontaner Natur. Vielleicht sogar so spontan, daß sie ihm nachgegeben hätte, wenn er sie auf dem langen Marsch nach Moskau irgendwann hinter ein Gebüsch gelockt hätte? Einen Augenblick lang stellte er sich vor, daß sie ihm begeistert gefolgt wäre. Erregung erfaßte ihn bei diesem Gedanken und er spann ihn weiter. Es wäre eine ganz neue Erfahrung, eine Frau mit so langen, unfein starken Gliedern in den Armen zu halten, eine Frau mit sonnengebräunter Haut, kunstlos aufgesteckten oder zusammengebundenen Haaren und fast schwarzen Augen unter viel zu dichten dunklen Augenbrauen.
Er ließ die lange Reihe seiner Geliebten Revue passieren, blasse, zierliche Dämchen allemal, geschickt zurechtgemacht, mit keinem Löckchen, das nicht genau so saß, wie sie es geplant hatten. Mädchen, die nach der neusten Mode ausstaffiert waren, leicht in Ohnmacht fielen und in deren Gegenwart man seine Worte sorgfältig wählen mußte. Wer war die letzte gewesen? Richtig, Barbara hieß sie, aber ihr Gesicht verschwamm in den vielen ihr ähnlichen, er kannte ihre Augenfarbe nicht mehr, von ihrer Nase wußte er nur, daß sie die richtige Form gehabt haben mußte und ihre Lippen waren ganz sicher nicht frech aufgeworfen gewesen.
Er sah Juliane genau vor sich, wie sie lachte, schimpfte, verzweifelt war und heiter. Diana, dachte er, Artemis, Penthesilea, die passendsten aller Namen für dieses Weib, aber die hatte er Matthäus noch nie nennen hören. Medea, fiel ihm ein und gleich darauf Klytämnestra, aber an die wollte er lieber nicht denken und außerdem war die Assenheimerin ebenso wenig eine Königin wie die alte Selma eine trojanische Prinzessin. Er nahm einen Bogen Papier, einen Kohlestift, und er, der nicht zeichnen konnte, sich nie damit beschäftigt hatte, versuchte ein Porträt der Marketenderin herzustellen. So deutlich sah er sie vor sich, so lebendig. Aber es glückte ihm nicht.
Er warf den Kohlestift auf den Marmorboden, hing weiter seinen Gedanken nach, die immer damit endeten, daß sich lange starke Beine um ihn schlangen und ihn rauhe Hände streichelten. Vielleicht habe ich einen Hang nach unten, wie meine Schwester, schalt er sich. Das kommt davon, wenn man zu lange allein ist. Wieso verschwende ich so viele Gedanken an eine Marketenderin? Auch wenn sie ein bemerkenswertes Exemplar ist, eine furchtlose, gewitzte Person, die mit beiden Beinen auf der Erde steht und noch dazu nicht schlecht aussieht, aber sie ist eben auch nur eine Händlerin, die Frau eines kleinen Korporals.
Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern eine tüchtige Kuh, die
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