Die Marketenderin
halbes Jahr her, wunderte sie sich. Wo bin ich in einem weiteren halben Jahr?
Als die Offiziere am Abend in den Palast kamen, half sie Marja und Pjotr in der Küche und dachte daran, daß Clärle jetzt wohl ihrer Herrin vor dem großen Auftritt das angstvertreibende Getränk anbot. Napoleon würde mit seinem Anhang in der Loge sitzen und wahrscheinlich ganz vergessen, daß sich der kleine Rest seiner Großen Armee fragte, wie es denn weitergehen sollte.
Juliane hatte sich den ganzen Tag über jeden Gedanken an Johannes verboten, allerdings war ihr dies nicht immer geglückt. Jetzt, wo sie ihn in ihrer Nähe wußte, zwang sie sich an alles mögliche andere zu denken. Sie wußte, daß Matthäus hochbeglückt war, den Offizieren Wein und Cognac einzuschenken. Jetzt brauchte er nicht mehr zu warten, bis ihn Johannes informierte, sondern erhielt alle Auskünfte aus erster Hand.
Ob es Johannes reute, daß er sie weggestoßen hatte? Ob er sie jetzt verachtete? Aber er hatte sie geküßt, und wie! Sie fuhr sich mit dem Finger an die Lippen und spürte ein leises Kribbeln. Eine Träne tropfte auf die rote Pfefferschote, die sie gerade aushöhlte, und sie wischte sich verstohlen die Augen. Im selben Augenblick sprang sie von der Holzbank auf und schrie. Marja schüttelte den Kopf und reichte ihr ein wassergetränktes Tuch.
»Nicht gut, erst Pfeffer anfassen, dann Auge«, sagte sie ein wenig vorwurfsvoll.
Juliane drückte sich das Tuch ans Auge, lief in der Küche auf und ab, stieß sich die Hüfte am Tisch, ließ sich auf die Holzbank fallen, stützte die Ellenbogen auf und brach in Tränen aus.
»So schlimm?«
Marja setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. Juliane schluchzte laut auf und barg ihren Kopf am riesigen warmen Busen der russischen Dienerin. Die klopfte ihr begütigend auf den Rücken, sagte etwas Russisches zu ihrem Mann und flüsterte Juliane ins Ohr: »Gut Mädchen, lieb Mädchen, fleißig Mädchen. Alles viel. Morgen besser.«
Dann drückte sie ihr ein Glas in die Hand. Ohne nachzusehen, was sich darin befand, leerte es Juliane in einem Zug. Sie schüttelte sich. Reiner Wodka! Sie, die außer einem gelegentlichen Glas Wein oder einem Krug Bier keinen Alkohol anrührte, schob Pjotr ihr Glas noch einmal hin. Er füllte es wieder und der Inhalt verschwand genauso schnell wie beim ersten Mal.
»Genug«, sagte Marja nach dem dritten Glas. »Sonst morgen nicht besser. Viel schlechter.«
Ist mir egal, dachte Juliane, mit morgen habe ich nichts zu schaffen, heute muß ich überleben und bei Gott, das Zeug hilft! Langsam verstehe ich die Männer.
»Essen«, befahl Marja und setzte ihr eine Suppe vor.
Angewidert schob sie den Teller von sich.
»Wenn ihr mir nichts mehr zu trinken gebt, dann hole ich es mir eben selber. Ich weiß, wo der Keller ist.«
Das Sprechen fiel ihr schon etwas schwer und sie hoffte, daß das Denken auch bald nachlassen würde.
»Wo bleibt die Suppe? Die Herren warten …« Matthäus' Stimme verebbte. Er hinkte zum Tisch.
»Mädchen, was ist mit dir?«
Sie vergrub ihren Kopf wieder an Marjas Busen und weinte weiter. Über ihren Kopf hinweg blickte Marja den Korporal mitleidig an. »Krank«, sagte sie nur.
»Krank!« Seine Assenheimerin war nie krank! Selbst auf dem Marsch, als tausende von Soldaten von tausend unterschiedlichen Leiden heimgesucht worden waren, als er selber einige Tage von fürchterlichen Durchfällen gequält worden war und der Oberleutnant im Spital gelegen hatte, war die Assenheimerin ungebeutelt davongekommen. Und jetzt, hier in Moskau, wo es weder an Essen, Schlaf noch Komfort mangelte, war sie krank?
»Muß in Bett«, versicherte Marja und versuchte Juliane beim Aufstehen zu helfen. Aber die Marketenderin rutschte ihr aus den Armen und fiel zu Boden.
Matthäus glückte es, sie auf einen Stuhl zu ziehen, und danach blieb er schwer atmend stehen. Pjotr war zu alt und schwach, um Juliane zum Gartenhaus zu tragen, er selber hatte sie nur mit Mühe auf den Stuhl setzen können. Das verfluchte Bein. Und Felix war natürlich wieder unterwegs. Es war ihm sehr peinlich, aber da konnte nur noch einer helfen. Auch wenn es ihm nicht recht war, daß ausgerechnet dieser Mann Juliane berühren würde. Ihm war die Spannung zwischen ihr und Gerter im Laden nicht entgangen. Erst dachte er, die beiden hätten sich gestritten, aber er kannte seine Assenheimerin, dann wäre sie frech und unleidlich gewesen. Doch sie war verzagt und beinah unterwürfig.
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