Die Marketenderin
reicher werden? Weil er dann mehr Macht hat. Was ist Macht?«
Da war sie steckengeblieben. Waren das die richtigen Antworten? Oder waren es die falschen Fragen? Sie setzte sich aufrecht hin, zog die Stirn in Falten und griff zum Bleistift.
»Macht ist falsch«, schrieb sie, »wenn dadurch Menschen hungern, Durst haben, ihre Häuser und ihren Besitz verlieren, sich gegenseitig belügen, betrügen, verwunden und töten. Wer hat Macht? Der König.« Sie strich König durch und ersetzte das Wort mit Kaiser. »Wer macht den Kaiser?« Sie wollte erst ›Gott‹ schreiben, erinnerte sich dann daran, was Johannes ihr mal erzählt hatte und schrieb: »Er sich selbst.«
Wütend schlug sie das Buch zu und warf es wieder in die Kiste. Ein Mann, der sich selbst zum Kaiser gemacht hatte, bestimmte über das Leben von Millionen Menschen, hatte sie in dieses fremde Land geschleppt und wußte jetzt nicht mehr, was er mit seiner Macht anfangen sollte!
Seitdem sie in Moskau waren, hatte Juliane immer wieder davon geträumt, daß sie irgendwann nach Hause zurückkehren würde, aber sie hatte sich vorgestellt, daß sie dann mit klingenden Goldstücken in der proppenvollen Puppe durch ein befriedetes Land gemütlich zurückreisen würde.
Jetzt sah es so aus, als ob sie entweder noch tiefer in dieses riesige Land eindringen oder sich mit Schimpf und Schande im Schlachtengetümmel zurückziehen müßten. Wovon sollten sie sich unterwegs ernähren? Wenn sie den gleichen Rückweg nähmen, würden sie durch jene ausgebrannten Dörfer kommen und an jenen verwüsteten Feldern vorbeiziehen, die schon auf dem Hinweg mehr Opfer gefordert hatten als die paar Schlachten. Woher sollten sie Pferde nehmen?
Klopfen am Fenster schreckte sie aus ihren Gedanken auf.
Der Laden ist geschlossen, murmelte sie und rührte sich nicht.
»Assenheimerin!« hörte sie eine weibliche Stimme, die ihr sehr bekannt vorkam. Das gibt's doch nicht, dachte sie, das ist nicht wahr und wenn es wahr ist, glaube ich an Wunder.
Sie öffnete die Tür und Clärle fiel ihr um den Hals.
»Ich bin so froh dich zu sehen! Ich bin so froh, wieder deutsch zu sprechen.«
»Was sprichst du denn sonst?« fragte Juliane, noch immer völlig überrumpelt.
»Français«, sang Clärle, trat ein und sah sich neugierig im Laden um.
»Oh«, sagte sie enttäuscht, »du hast ja kaum was.«
»Alles ausverkauft, darum ist der Laden auch geschlossen«, erwiderte Juliane und stellte fest, daß sie nicht froh über das Wiedersehen war.
»Meine Herrin schickt mich. Ich soll ihr ein Mittel gegen Angst bringen. Sie hat gehört, daß eine württembergische Marketenderin in Moskau Kräuter verkauft, und da wußte ich, das konntest nur du sein.«
»Was für eine Angst?« fragte Juliane geschäftsmäßig.
»Willst du denn gar nicht wissen, wie es mir ergangen ist und was ich alles erlebt habe?« fragte Clärle enttäuscht und ließ sich vorsichtig auf dem Hocker nieder, auf dem vor kurzem noch Matthäus gesessen hatte.
Juliane musterte sie und mußte zugeben, daß Clärle erheblich hübscher aussah, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie trug ein hellblaues Kleid aus einem fließenden Stoff, der zwar viel zu hoch in der Taille zugeschnitten war – wie Juliane fand – direkt unterm Busen, aber der gut mit ihren Augen korrespondierte. Ihr blondes Haar war auf komplizierte Weise hochgesteckt und ihr Gesicht war leicht gebräunt.
»Wo sind deine Sommersprossen geblieben?« fragte Juliane.
»Eine Wundercreme!« rief Clärle. »Von meiner Herrin.«
»Dem Leipziger Mädchen?« fragte Juliane ungläubig.
»Natürlich nicht! Da bin ich schon lange weg. Mimi Manon ist meine Herrin!«
Sie platzte fast vor Stolz. Juliane zuckte mit den Achseln. »Kenne ich nicht.«
»Kennst du nicht? Jeder kennt Mimi Manon!« Sie blickte leicht verächtlich um sich. »Na ja, du kennst natürlich keine wichtigen Leute …«
Warum hat der Georg sie eigentlich sitzenlassen, dachte Juliane, die beiden passen so gut zusammen. Aber weil ihre Neugierde größer war als ihre Abneigung, stellte sie einen Becher Wein vor Clärle und forderte das Mädchen auf, ihre Geschichte zu erzählen.
Manchmal wußte sie nicht, ob sie lachen sollte oder wütend werden, vor allem, als Clärle ihr mit entsetzter Stimme erzählte, daß sie auf dem Weg nach Moskau ein paar Mal in sehr harten Betten hatten schlafen und viel zu fettes Fleisch hatten essen müssen. Wo sind die bloß durchgekommen, fragte sich Juliane, vielleicht wäre das die
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