Die Marketenderin
richtige Route im Fall eines Rückzugs.
Aber Clärle hatte sich nicht einmal den Namen einer einzigen russischen Stadt oder Ortschaft gemerkt. Sie wußte nur, daß sie in Wien gewesen war, weil sie dorthin mit der Kaufmannsfamilie in die Sommerfrische gefahren war. Ansonsten war in ihrem Kopf nur Platz für die Namen der wichtigen Leute, die sie kennengelernt hatte.
Und wie war sie zu ihrer neuen Herrin gekommen? Aus Clärles etwas wirren Worten reimte sich Juliane die Geschichte zusammen. Die Schauspielerin Mimi Manon war offenbar enttäuscht gewesen, als wegen des Feldzugs das gesellschaftliche Leben in Paris beinahe zum Stillstand gekommen war. Von Kollegen hörte sie, daß sich Napoleon siegreich Moskau näherte und daß er da Theater von französischem Format vorzufinden wünschte. Wenn das Gesellschaftsleben nicht zu ihnen kam, dann mußten sie ihm eben folgen, beschloß eine Gruppe von Schauspielern und machte sich auf den Weg.
In Wien wurde die Zofe der Schauspielerin krank und als sie beim Frühstück am nächsten Morgen bitterlich darüber klagte, daß ohne Zofe sein fast so schlimm wie ohne Zähne sein sei, hatte die Kaufmannsfrau am Nebentisch ihr die Zofe ihrer Tochter angeboten. Clärle war begeistert, als sie hörte, wohin die Reise ging. Sie hatte immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, Georg wieder zu finden, dem sie die schlechte Behandlung nicht nachtrug. Sie war überzeugt, daß er sie viel mehr achten würde, wenn er erfuhr, was aus ihr geworden war.
»Und jetzt hat deine Herrin Angst?« fragte Juliane.
Clärle entging der Sarkasmus in Julianes Stimme. Sie nickte.
»Weil doch morgen der Kaiser Napoleon ins Theater kommt, und es eine Aufführung nur für die Generäle und die wichtigen Leute gibt. Meine Herrin sagt, daß es ganz normal ist, wenn man vor einer Aufführung unruhig wird, aber diesmal hat sie Angst, daß sie ihren Text vergißt, wenn sie den mächtigsten Mann der Welt vor sich sieht.«
Der mächtigste Mann der Welt, dachte Juliane, der geht ins Theater, anstatt sich darum zu kümmern, was aus uns allen werden soll. Macht haben heißt, daß einem die Menschen egal sein können, für die man verantwortlich ist. Das muß ich aufschreiben, dachte sie, aber kann ich dadurch die Welt verändern?
»Was hast du gesagt?« fragte sie Clärle.
»Ich habe gefragt, wie es euch allen geht. Dir, dem Korporal und … und …«
»… und dem Georg. Das willst du doch wissen?«
»Ja«, flüsterte sie und senkte den Kopf. »Lebt er noch?« fragte sie zaghaft.
»Soweit ich weiß, ja. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Die Württemberger sind in der Cassaner Vorstadt, da müßtest du nach ihm fragen.«
»Ich trau mich nicht«, gestand Clärle. »Da ist doch alles voller Soldaten … und ich bin nicht so eine … schlimme Dinge habe ich gehört.«
»Ach ja, erzähl mal!«
Juliane schwang sich auf die Theke und blickte das Mädchen belustigt an. Sie hätte gerne gehört, was Clärle, die offenbar auf Rosen gebettet nach Moskau gezogen war, vom richtigen Leben zu erzählen hatte. Aber Clärle schüttelte nur den Kopf und flüsterte, Juliane wüßte schon, was sie meinte.
»Bitte«, flehte sie Juliane an, »kannst du nicht den Georg für mich finden?«
»Wo er dich doch sitzengelassen hat«, erinnerte Juliane sie. Clärle aber protestierte gegen diese Anschuldigung. Es sei ganz anders gewesen und alles ihre Schuld. Sie habe den Dreck und die harte Arbeit unterwegs nicht ertragen können und damals nicht verstanden, daß Georg mit wichtigen Aufgaben betraut war und für sie nur wenig Zeit haben konnte. Jetzt sei alles ganz anders. Sie lebten beide in Moskau, es gebe keinen Krieg mehr, sie hätten Zeit füreinander und alles könne wieder so schön werden wie in Öhringen. Nur, daß sie inzwischen klüger und erwachsener geworden sei und ihm versichern könne, daß sie kein Klotz an seinem Bein sein werde.
Das Mädchen tat Juliane leid. Wieder einmal, dachte sie. Na schön, Johannes wird schon wissen, wo sein Neffe ist. Aber ob der noch was mit Clärle zu tun haben möchte? Ob ich ihr das wirklich wünsche?
»Auch der Georg hat sich verändert«, sagte sie vorsichtig. »Der Krieg hat ihn hart gemacht.«
»Das verstehe ich.« Clärles Augen strahlten. »Er ist jetzt ein richtiger Mann, damals war er doch noch ein bißchen ein Bub.«
Juliane dachte an den Jungen, der auf dem Hof der Mutter im Staub gestrampelt und untertänigst gebeten hatte, losgebunden zu werden. Ist das erst ein
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