Die Markgräfin
Körperfülle durchzulassen.
Haubold stellte zuerst die Karbidlampe auf die andere Seite der Öffnung und warf dann den Rucksack hinüber. Dann steckte er Kopf und Oberkörper durch das Loch, so weit es ging, stützte sich am Boden mit beiden Händen ab und quetschte, zog und drückte sich schließlich unter Baucheinziehen und Atemanhalten so weit durch, bis er seine Beine nachholen konnte. Schnaufend und prustend landete Haubold drüben auf allen vieren.
Hoffnungsvoll sah er sich um. Der Tunnel war hier wesentlich breiter, gute drei Meter schätzte er, und er war auch höher als vorher, sodass er bequem stehen konnte. Der Boden wies, anders als bisher, Abnutzungsspuren auf; der Kastellan glaubte sogar, im Dreck der Jahrhunderte Räderspuren von Schubkarren oder einem Leiterwagen zu erkennen. Dieser Teil des Gangs war ganz eindeutig von Menschen genutzt worden. In einer Ecke entdeckte Haubold einige völlig vergilbte, schwarz bedruckte Papierfetzen – offenbar Reste einer Zeitung. Im Licht der Karbidlampe suchte er nach einem Datum, fand aber keines. Irgendwo im noch lesbaren Bereich des Textes stachen ihm in einer Überschrift die Worte »Berlin«, »Bismarck« und »Kaiser« ins Auge. Also war die Zeitung, ganz grob geschätzt, vielleicht hundert bis hundertdreißig Jahre alt. So lange war hier vermutlich schon niemand mehr gewesen.
Haubold hinkte langsam und vorsichtig weiter, um
seinen wehen Knöchel zu schonen. Seine Hoffnung stieg. Er bemerkte bräunliche Glassplitter auf dem Boden, dann einen abgebrochenen Flaschenboden, und schließlich stieß er auf einen völlig verrosteten Schnappverschluss, den er beinahe begrüßte wie einen Freund. Die Rettung schien in greifbarer Nähe! Es stimmte tatsächlich, der Gang mündete in einen der unzähligen Kulmbacher Bierkeller. Der Bereich, den er gerade durchschritt, war eindeutig in früherer Zeit als Lagerraum benutzt worden. Man hatte den Tunnel ab einer bestimmten Stelle abgemauert und danach verbreitert und höher gemacht, damit man Bier einlagern konnte. Und das Allerschönste an der Sache war: Ein Lagerraum musste selbstverständlich von außen begehbar sein. Das hieß, Haubold brauchte einfach nur weiterzulaufen und würde dann unweigerlich auf den Ausgang stoßen. Zur Feier dieser Erkenntnis beschloss der Kastellan, sich die letzte Dose Cola zu gönnen, ausgedörrt wie er war. Er hockte sich neben den abgebrochenen Griff einer alten Bierkiste und trank durstig. Danach verleibte er sich mit neu erwachtem Appetit den letzten Schokoriegel ein, seine eiserne Reserve. Seine Zuversicht war inzwischen riesengroß.
Frisch gestärkt ging es noch einmal so gut! Wäre nicht sein verletzter linker Fuß gewesen, Haubold hätte die nächsten hundert Meter beschwingten Schrittes hinter sich gebracht. So humpelte er lediglich
etwas jämmerlich, aber mit neu gewonnenem Elan, weiter durch den aufgegebenen Bierkeller, und er wunderte sich nur mehr wenig, als er auf eine hölzerne Lattentür stieß. Wäre doch gelacht, wenn er hier nicht auch noch durchkäme! Zu seinem Leidwesen fiel ihm ein, dass er zwar aus Versehen den Klappspaten samt dem kaputten Pickel beim Mauerdurchbruch zurückgelassen hatte, aber was störte das einen Zwei-Meter-Mann mit Bärenkräften? Schließlich handelte es sich hier nur um eine schäbige, kleine, wurmzerfressene Holztür! Der Kastellan stellte die Laterne neben sich auf den Boden, holte in seinem grenzenlosen Überschwang aus und donnerte, wie er es schon des Öfteren bei Bud Spencer, Terence Hill und anderen Leinwandhelden gesehen hatte, mit der Schulter gegen die Holztür. Außer einem faustgroßen Bluterguss am Oberarm brachte ihm diese Methode nichts ein. »Dämliche Kino-Scheiße«, keuchte er und wartete, bis der Schmerz nachließ. Dann marschierte er zurück und holte den Spaten.
Babette Garhammer war eine rüstige alte Dame weit in den Achtzigern mit leichten Anflügen von Alzheimer. Fragte man sie nach ihrem Alter, so antwortete sie stets mit dem geflügelten Satz »Wenn ich des noch wüsst, wär ich jünger!« und kicherte wie ein Schulmädchen. Insgeheim schrieb sie ihr begnadetes Alter jedoch der Tatsache zu, dass ihr Mann bereits im
Jahr 1957 auf der Heimfahrt von einer winterlichen Sauftour mitsamt seiner Zündapp, auf die er immer so stolz gewesen war, in einen Graben gefahren und erfroren war. Seitdem lebte sie von einer ausreichenden Witwenrente und in völliger Übereinstimmung mit sich selbst allein in ihrem kleinen Haus
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