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Die Markgräfin

Die Markgräfin

Titel: Die Markgräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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am Tag zuvor noch nicht aufgefallen war. Er ging hin und hängte sie ab – wie alle Protestanten war er kein Freund der Marienverehrung, die die katholische Kirche pflegte.
    Langsam trafen die Ersten von der Schlossdienerschaft ein. Tiefenthaler nickte Hans, dem Küchenbuben, zu und grüßte Lorenzo Neri, den Maler. Die Kapelle füllte sich. Zum Schluss erschien Melchior von Arnstein, der Vogt, und hinter ihm ein noch junger blonder Mann, dem zwei Krücken ein fehlendes Bein ersetzten. Das musste der Hauptmann sein, folgerte Tiefenthaler. Man hatte in der Stadt schon von seiner Kriegsverletzung erfahren. Georg von Leuchtenberg setzte sich in die erste Reihe, während der Vogt noch stehen blieb, um die Leute abzuzählen.
    Dann begann die Messe. Tiefenthaler fing an zu sprechen, leise, aber mit angenehmer, klingender Stimme.
    »Beim aufgehenden Morgenlicht preisen wir dich, o Herr unser Gott. Schenke uns in deiner Barmherzigkeit einen Tag, erfüllt mit Frieden und Liebe. Lass unsere Hoffnungen nicht scheitern. Trage uns und lass nicht ab von uns in diesen unruhigen Zeiten. Zeige uns den richtigen Weg und hilf uns, wo wir schwach sind. Lass uns auch an diesem neuen Tag wachsen und reich werden in der Liebe zu dir und zu allen Menschen.«
    Es dauerte nicht lange, und die Schlossdiener
hingen an Tiefenthalers Lippen. Auch sie, wie die Gemeinde in der Stadt, waren berührt von der Ausstrahlung des jungen Pfarrers, die immer dann besonders stark war, wenn er predigte.
    Tiefenthaler hatte – der Ruf seines grimmigen Vorgängers war ihm wohl bekannt – beschlossen, die Liebe zum Thema seiner ersten Predigt zu machen. Er wollte seiner neuen Gemeinde ein Zeichen setzen – sie sollte erfahren, dass der Weg zu Gott bei ihm nicht über Zwang und Drohungen führte.
    »Wer liebt, ist Gott nahe. Gott ist die Liebe und die Gerechtigkeit. Er liebt uns Menschen selbst dann, wenn wir sündigen. Er spürt, was wir brauchen, und nimmt uns an, wie wir sind. In der Bibel steht: ›Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt.‹ Aber nicht nur Gott sollen wir lieben, sondern auch alle Menschen. Die Liebe gehört zur Schöpfung wie Geburt, Leben und Tod.«
    Tiefenthaler schaute längst nicht mehr auf seine Notizen, sondern sprach, wie es seine Gewohnheit war, frei heraus. Sein Blick schweifte über die Gemeinde und hoch zur Empore, wo er am Tag zuvor den jungen Italiener getroffen hatte. Dort droben, mit der Hand am Geländer, stand reglos und hoch erhobenen Hauptes eine Frau, dunkel, mit eigentümlich hellen Augen, die Tiefenthaler ernst, fast erstaunt fixierten. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde.
    Der junge Kaplan verlor mitten in der Predigt den Faden und stand einfach nur da. Das musste sie sein, die Markgräfin. Die Gemeinde wartete; man räusperte sich, hustete. Schließlich riss sich Tiefenthaler zusammen und sprach weiter.
    »Natürlich gibt es verschiedene Arten von Liebe: die Liebe zu Gott, die Liebe zu Freunden, Eltern, Kindern, die Liebe zwischen Mann und Frau. Jede hat ihre Berechtigung und ist von Gott geheiligt. Liebe beginnt mit dem Leben und hört mit dem Tod nicht auf … «
    Tiefenthaler zwang sich, den Rest der Messe über nicht mehr nach oben auf die Empore zu schauen.

Kulmbach, September 2002
    Zwei Tage nach der bierseligen Feier zur Entdeckung des Geheimgangs hockte Kellermann spätnachmittags auf seinem rosa Ungetüm und wiegte sich in den nicht vorhandenen Hüften. Dann stützte er beide Ellbogen auf den Schreibtisch und machte mit dem Becken rotierende Bewegungen. Das tat gut nach einem langen Arbeitstag! Sein Blick fiel auf die vier von Fleischmann und seiner Begleiterin benutzten Folianten, die immer noch auf dem Tisch am Fenster lagen. Hätte die Kriegbaum schon längst aufräumen können, ärgerte er sich. Dabei kam ihm das Initial auf
der Klöppelarbeit wieder in den Sinn. »Ein ›B‹ mit einem Krönchen, ein ›B‹ mit einem Krönchen«, murmelte er vor sich hin, »wo kenn ich das bloß her?«
    Als er auch nach einer halben Stunde zu keinem Ergebnis kam, beschloss er, nach Hause zu gehen. Er nahm seine Allwetterjacke vom Haken und trat auf die Straße hinaus. Sein Blick fiel auf die Plakatwand gegenüber, auf der ein blondbezopftes Model mit tiefem Dirndl-Ausschnitt ein großes Glas Rotwein in der Hand hielt und einem dümmlich grinsenden jungen Mann zuprostete. »Weine aus der Pfalz« stand in großen Lettern darunter. Kellermann blieb ruckartig stehen und schlug sich mit der flachen

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