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Die Mars-Chroniken

Die Mars-Chroniken

Titel: Die Mars-Chroniken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Maschinen, die löschen die Sonne aus. Es wird immer angemessen ›trübe‹ sein.«
    Stendahl genoß sie in vollen Zügen: Die Trübsal, die Düsterkeit, die übelriechenden Dämpfe, die ›Atmosphäre‹ – es war alles so wohlabgewogen! Und das Haus erst! Ein einziger modriger Schrecken – dazu der entsetzliche See, die stinkenden Pilzkolonien, der fortgeschrittene Zerfall! Plastik oder nicht – wer ahnte schon die Wahrheit?
    Er sah zum herbstlichen Himmel auf. Irgendwo da oben, weit entfernt, war die Sonne. Irgendwo war es April auf dem Planeten Mars, ein heller Monat mit blauem Himmel. Irgendwo über ihm brannten Raketen herab, um einen wunderbaren toten Planeten zu zivilisieren. Ihr kreischender Lärm drang nur gedämpft in diese trübe, abgeschirmte Welt, in diesen alten, alten Herbst.
    »Nachdem meine Arbeit nun getan ist«, sagte Mr. Bigelow unsicher, »möchte ich mir gern die Frage erlauben, was Sie mit all dem anfangen wollen.«
    »Mit Ascher? Haben Sie’s noch nicht erraten?«
    »Nein.«
    »Bedeutet Ihnen der Name Ascher überhaupt nichts?«
    »Nein.«
    »Wie steht es dann mit dem Namen Edgar Allan Poe? Kennen Sie den?«
    Mr. Bigelow schüttelte den Kopf.
    »Natürlich.« Mit einer Mischung aus Bestürzung und Verachtung schnaubte Mr. Stendahl durch die Nase. »Wie konnte ich erwarten, daß Sie Poe kennen! Er ist schon vor langer Zeit gestorben, noch vor Lincoln. Alle seine Bücher wurden im Großen Feuer verbrannt. Das war vor dreißig Jahren – 1975.«
    »Aha«, sagte Mr. Bigelow wissend. »Einer von denen!«
    »Ja, einer von denen, Bigelow. Er und Lovecraft und Hawthorne und Ambroise Bierce und all die Schreckens- und Fantasiegeschichten – und im gleichen Aufwasch wurden auch alle Zukunftserzählungen verbrannt. Erbarmungslos. Ein neues Gesetz. Dabei fing alles so harmlos an. In den fünfziger und sechziger Jahren waren es nur Lappalien. Man begann Zensur auszuüben auf Comic Strips und dann auf Kriminalromane und natürlich auf Filme; Zensur auf diese oder jene Weise, durch diese oder jene Gruppe, Zensur nach politischer Tendenz, religiösen Vorurteilen, nach Wünschen der Gewerkschaften; es gab immer eine Minderheit, die sich vor irgend etwas fürchtete, und eine breite Mehrheit, die Angst hatte vor dem Dunklen, vor der Zukunft, vor der Vergangenheit, die auch Angst hatte vor der Gegenwart, vor sich selbst und vor ihrem eigenen Schatten.«
    »Ich verstehe.«
    »Man hatte Angst vor dem Wort ›Politik‹ (das, wie ich höre, mit der Zeit in gewissen reaktionären Kreisen gleichbedeutend mit Kommunismus wurde, und es war lebensgefährlich, das Wort in den Mund zu nehmen!), und es wurde hier eine Schraube angezogen und da eine Schraube angezogen, es wurde gestoßen und gezerrt, und Kunst und Literatur waren bald nur noch ein großer Karamelstrang, der zerfilzt, zu Zöpfen zerrissen, zu Knoten verschlungen und in alle Richtungen zerstreut wurde, bis er keine Spannkraft und keinen Geschmack mehr hatte. Dann standen die Filmkameras still, und die Theater wurden dunkel, und die Druckereien stießen keinen Niagarafall an Lesestoff mehr aus, sondern nur noch ein paar harmlose Tropfen ›reinen‹ Materials. Oh, das Wort ›Flucht‹ galt als radikal, kann ich Ihnen sagen.«
    »Wirklich?«
    »Allerdings. Jeder Mensch, so hieß es, müsse der Wirklichkeit ins Auge sehen, müsse den Augenblick bewältigen. Und was dieser Maxime nicht entsprach, mußte verschwinden. All die herrlichen Erfindungen und Fantasieflüge der Literatur waren zum Untergang verdammt. Sie wurden 1975 eines Sonntagmorgens an einer Bibliothekswand aufgereiht; der Nikolaus und der kopflose Reiter und Schneewittchen und Rumpelstilzchen und Frau Holle – oh, was war das für ein Wehklagen! –, und sie wurden alle erschossen, und die papiernen Schlösser wurden verbrannt, ebenso wie die verzauberten Frösche und alten Könige und die Leute, die glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende lebten (denn natürlich war es eine Tatsache, daß niemand glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende lebte!), und ›Es war einmal‹ wurde zu einem ›Es wird nie mehr!‹. Und die Asche der Verzauberten Rikscha wurde zusammen mit den Trümmern aus dem Lande Oz verstreut, die gute Glinda und Ozma wurden zu Filets verarbeitet, Polychrome zerrte man in einem Spektroskop auseinander, und Jack Kürbiskopf wurde beim Biologenball mit Baiser serviert! Die große Bohnenpflanze ging unter den Hufen des Amtsschimmels zugrunde. Dornröschen erwachte

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