Die Mars-Chroniken
fast Zeit. Er drehte das Sherryglas in der Hand. Leise setzte er sich. Von den Eichenbalken hoch oben blinzelten Fledermäuse herab und kreischten heiser, ihre empfindlichen Metallkörper unter künstlichem Fleisch verborgen. Er hob sein Glas und prostete ihnen zu. »Auf unseren Erfolg.« Dann lehnte er sich zurück, schloß die Augen und überdachte noch einmal seinen Plan. Welch ein Hochgenuß auf seine alten Tage – die Rache an der antiseptischen Regierung für ihren literarischen Terror und Verbrennungswahn. Oh, wie die Wut und der Haß im Laufe der Jahre gewachsen waren! Wie der Plan in seinem betäubten Geist langsam Gestalt annahm bis zu jenem Tag vor drei Jahren, da er Pikes kennenlernte!
Ah, ja, Pikes. Pikes, den eine Bitterkeit erfüllte, bodenlos wie ein tiefer schwarzer Brunnen gefüllt mit ätzender grünschillernder Säure. Wer war dieser Pikes? Der größte von allen! Pikes, der Mann mit den zehntausend Gesichtern, eine Furie, eine Rauchwolke, ein täuschender Nebel, ein weißer Regenschauer, eine Fledermaus, ein dürstender Schlund, ein Monstrum – das alles war Pikes! War er besser als Lon Chaney der Ältere? Stendahl überlegte. Nächtelang hatte er Chaney in den uralten Filmen betrachtet. Ja, besser als Chaney war er. Auch besser als jener andere alte Darsteller – wie hieß er doch gleich? Karloff? Weitaus besser! Lugosi? Kein Vergleich! Nein, es gab nur einen Pikes, ein Mann, der all seiner Illusionen beraubt war; er wußte nicht, wo er hingehörte, er hatte kein Publikum mehr. Es war ihm sogar untersagt, sich selbst im Spiegel etwas vorzuspielen!
Armer, unmöglicher, geschlagener Pikes! Wie muß es für dich gewesen sein, Pikes, in der Nacht, da man dir deine Filme nahm, da man sie wie Gedärme aus dem Projektor zerrte, als risse man sie dir aus dem Leib, da man sie zu wilden Haufen zusammenraffte, um sie in den Ofen zu stecken und zu verbrennen? Ja. Ja. Stendahl spürte, wie seine Hände kalt wurden in sinnloser Wut. Was war natürlicher, als daß sie eines Tages zusammenkamen und über zahllosen Tassen Kaffees unzählige Nächte lang diskutierten und daß aus all dem Reden und bitteren Ränkeschmieden eines hervorging – das Haus von Ascher!
Eine große Kirchenglocke ertönte. Die Gäste kamen.
Lächelnd ging er ihnen entgegen.
Voll ausgewachsen und doch ohne Erinnerung, so warteten die Roboter. In waldgrüner Kleidung, in frosch- und farnfarbener Seide warteten sie. Sie hatten sonnengelbes oder sandgelbes Haar und warteten. Geölt lagen sie da, mit Knochen aus bronzenen Röhren, in Gallerte gebettet. In Särgen für die Nicht-Toten und die Nicht-Lebenden, in Bretterkisten warteten die Metronome auf ihr Startzeichen. Es roch nach Schmiermittel und geschliffenem Messing. Es war still wie auf einem Friedhof. In Geschlechter aufgeteilt, aber geschlechtslos – Roboter. Mit Namen versehen, doch namenlos, mit allen inneren und äußeren Eigenschaften des Menschen außer der Menschlichkeit, so starrten die Roboter zu den genagelten Deckeln ihrer FOB-Kisten auf und verharrten in einer Totenstarre, die kein richtiger Tod war, da sie nie ein Leben gekannt hatten. Und plötzlich war überall das Knirschen herausgezogener Nägel zu hören. Deckel wurden angehoben. Scharten lagen über den Kisten, und eine Hand drückte Schmieröl aus einer Kanne. Nun wurde eine Uhr in Gang gesetzt, ein schwaches Ticken. Es folgten eine zweite und eine dritte, bis der ganze Raum ein gewaltiger surrender Uhrenladen geworden war. Murmelaugen wurden gerollt, Gummilider öffneten sich, Nasenflügel zitterten. Die Roboter, die das Fell von Affen trugen und den weißen Pelz von Kaninchen, erhoben sich: Tweedledum folgte Tweedledee. Mockturtle, Haselmaus, die Gestalten Ertrunkener, aus Salz und Tünche bestehend, schwankend; Erhängte mit blauen Hälsen und hochgerollten Augen wie Muschelfleisch, Wesen aus Eis und schimmerndem Flitterwerk, Tonzwerge und agile Elfen. Tick-tack-Ruggedo, der Nikolaus mit selbstgemachtem Schneehauch, Blaubart mit flammendem Backenbart, Schwefelwolken, aus denen grüne Feuerspitzen hervorstachen; schließlich kam eine gewaltige schuppige Schlange, ein Drache mit einem Hochofen in seinem Bauch, durch die Tür gerollt und schrie und tickte und bellte und schwieg und blies und erzeugte einen seltsamen Hauch. Zehntausend Kistendeckel fielen zu. Der Uhrenladen zog in das Haus von Ascher ein. Die Nacht war verzaubert.
Ein warmer Hauch strich über das Land. Die Gästeraketen landeten;
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