Die Maschen des Schicksals (German Edition)
begann sich gerade erst etwas zu lichten. Während sie versuchte, mit dem, was ihre Familie und Freunde als ihre „neue Realität“ bezeichneten, klarzukommen, wollte sie einen Schritt nach dem anderen in die Zukunft tun. Das Problem war, dass sie ihre „alte Realität“ herbeisehnte …
Bethanne nippte an ihrem Tee, der langsam abkühlte. Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als die Küchentür aufgerissen wurde und die sechzehnjährige Annie hereinstürzte, mit roten Wangen und schweißgebadet. Nasse Haarsträhnen klebten ihr zu beiden Seiten im Gesicht. Sie trug ein rückenfreies Top und Radlershorts und kam offensichtlich von einem ausgedehnten Lauf. Da Annie immer ein enges Verhältnis zu ihrem Vater gehabt hatte, war die Scheidung für sie besonders hart gewesen. Kurz nachdem Grant ausgezogen war, hatte Annie mit dem Joggen begonnen und rannte oft acht oder sogar sechzehn Kilometer am Tag. Unglücklicherweise war das nicht die einzige Veränderung im Verhalten ihrer Tochter. Die neuen Freunde, mit denen sie sich zusammengetan hatte, wirkten nicht sehr vertrauenerweckend.
Bethanne machte sich ständig große Sorgen um den Umgang ihrer Tochter. Das Mädchen hatte seine Wut auf Tiffany fokussiert, und Bethanne hegte den Verdacht, ihre neuen Freunde ermutigten sie zu ihren ungeheuerlichen Aktionen. Obgleich Bethanne sicher nicht zu den Fans dieser Frau gehörte, die übrigens, wie sie erfahren hatte, fünfzehn Jahre jünger war als ihr Ex, befürchtete sie, dass Annie in ihrem Eifer, sich an Tiffany zu rächen, etwas sehr Dummes anstellen könnte, das womöglich die Polizei auf den Plan rief.
Andrew hatte mit Bethanne mehrmals über die Aktionen von Annie gesprochen, von denen er wusste. Dazu gehörte, dass sie Tiffanys Namen und Adresse für ein Zeitschriftenabonnement angegeben hatte ebenso wie für etliche Bestellungen oder Verabredungen. Wie auch immer, Annie schwieg beharrlich, wenn Bethanne mit ihr darüber zu reden versuchte.
„Du hast mir keine Nachricht hinterlassen“, rügte Bethanne sie milde, als Annie zum Kühlschrank ging und eine kalte Flasche Wasser herausnahm.
„Tut mir leid“, murmelte das Mädchen ohne aufrichtiges Bedauern, drehte den Verschluss ab und lehnte den Kopf zurück, um die halbe Flasche zu leeren. „Ich dachte, du könntest es dir denken. Ich laufe ja jeden Tag.“
Bethanne hatte es sich gedacht, aber das war nicht der Punkt.
„Wie war es bei der Arbeitsagentur?“, wollte ihre Tochter wissen.
Bethanne seufzte und wünschte, Annie hätte dieses Thema nicht angesprochen. „Nicht gut.“ Sie hatte gewusst, dass die Jobsuche schwierig werden würde, doch sie hatte keine Ahnung gehabt, wie schmerzhaft diese Angelegenheit tatsächlich war. „Als ich dem Mann von meinen Backkünsten erzählte, schien er nicht sonderlich beeindruckt.“
„Du solltest in einer Konditorei arbeiten.“
Daran hatte sie auch schon gedacht. Doch acht Stunden umgeben von Backwaren erschien ihr nicht sehr verlockend.
„Andrew und ich wurden von allen unseren Freunden immer beneidet.“ Annie klang fast nostalgisch. „Wir hatten die besten Geburtstagspartys mit den leckersten Kuchen von allen.“
„Ich habe auch großartige Spieleabende organisiert, aber dafür gibt es heutzutage keine Verwendung mehr.“
„Ach, Mom.“ Annie verdrehte die Augen.
„Ich werde mich ernsthaft bemühen, wenn der Sommer vorbei ist.“
„Du schiebst es immer wieder auf.“
Ihre Tochter hatte recht. Doch nachdem sie so viele Jahre nicht gearbeitet hatte, glaubte Bethanne nicht, dass sie irgendwelche vermittelbaren Fähigkeiten besaß. Sie dachte mit Entsetzen daran, dass sie womöglich für den Rest ihres Daseins an der Kasse im Lebensmittelladen stehen und die Kunden fragen müsste, ob sie lieber eine Papier- oder eine Plastiktüte haben wollten.
„Vielleicht sollte ich Kosmetika verkaufen“, sagte sie und beobachtete Annies Reaktion. „Ich könnte so meine Zeit selbst einteilen und …“
„Mom!“ Das Mädchen sah sie aufgebracht an. „Das ist doch lächerlich.“
„Viele Frauen verdienen damit ein gutes Einkommen, und …“
„Kosmetika verkaufen ist vielleicht für andere in Ordnung, aber nicht für dich. Du hast eine Menge Talente, aber als Vertreterin wärst du eine Katastrophe, das wissen wir beide ganz gut. Es muss doch irgendwas anderes für dich geben. Wo bleibt denn dein Stolz?“
Tja, der versteckte sich seit sechzehn Monaten irgendwo in den Untiefen des Kellers, dachte Bethanne.
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