Die Maschen des Schicksals (German Edition)
stimmte Andrew ein.
Ihre Rollen hatten sich offenbar irgendwann vertauscht, das war Bethanne noch gar nicht aufgefallen. Es musste wohl passiert sein, als sie gerade nicht aufgepasst hatte.
4. KAPITEL
Courtney Pulanski
C ourtney fand, dass die Maßnahmen ihres Vaters übertrieben und unfair waren. Okay, sie hatte sich ein bisschen Ärger eingefangen, indem sie sich frech den Lehrern gegenüber verhalten hatte und ihre Zensuren zusehends schlechter geworden waren. Allerdings hätte alles viel schlimmer sein können – wenn zum Beispiel die Polizei herausfinden würde, wer vor vier Jahren den Müllcontainer angezündet hatte. Aber wer konnte ihr das schon verdenken? Ihre Mutter war vor Kurzem gestorben, und Courtney hatte sich verloren und verwirrt gefühlt. Sie war immer aggressiver geworden. Inzwischen ging es ihr besser – nicht dass sie alles überstanden hätte. Sie würde es nie „überstehen“, obwohl ihre ahnungslosen Freundinnen das Gegenteil behaupteten. Doch mit der Zeit hatte sie sich etwas gefangen und hart gearbeitet, um die Highschool hinter sich zu bringen. Und jetzt so was!
Das Abschlussjahr würde sie bei ihrer Großmutter in Seattle verbringen. Während die Kids, mit denen sie aufgewachsen war, gemeinsam ihre Prüfungen machten, saß sie meilenweit entfernt am anderen Ende des Landes. Courtney liebte ihre Großmutter, doch sie konnte sich nicht vorstellen, ein ganzes Jahr bei ihr zu leben.
Aber es gab sonst niemanden. Keinen anderen Ort, an dem Courtney bleiben könnte, während ihr Vater als Ingenieur bei einem Brückenbau-Projekt in Brasilien arbeitete. Die Gegend, in der er sich aufhielt, wäre nichts für ein junges Mädchen im Teenageralter, behauptete er.
Jason, ihr älterer Bruder, war im Internat und hatte einen Job als Nachhilfelehrer für die Sommerkurse. Ihre Schwester Julianna absolvierte ihr Grundstudium an der Uni und hatte ebenfalls einen Job, und zwar in einem Ferienhaus in Alaska. Courtney war die Jüngste. Die Kosten für die Ausbildung ihrer Geschwister häuften sich. Ihr Vater benötigte schlicht und einfach Geld, ansonsten hätte er einen solchen Auftrag nicht angenommen, bevor Courtney die Schule abgeschlossen hatte. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass sie dann ein Stipendium erhalten würde. Dummerweise waren ihre Zensuren nicht die besten, und die Chancen, einen geförderten Platz an der Uni zu erhalten, waren etwa so groß wie die, im Lotto zu gewinnen. Mit anderen Worten, ihr Vater wäre dazu gezwungen, auch für sie zu bezahlen. Das Jahr in Seattle zu verbringen war daher die naheliegendste Lösung.
Alles wäre anders gewesen, wenn ihre Mutter nicht bei diesem fürchterlichen Autounfall ums Leben gekommen wäre. Es war vor vier Jahren passiert, und noch immer kam es ihr vor wie gestern.
„Courtney!“, rief ihre Großmutter vom Treppenabsatz. „Bist du wach?“
„Ja, Grandma.“ Es war unmöglich zu schlafen, wenn der Fernseher schon um fünf Uhr morgens lärmte. Ihre Großmutter benötigte ein Hörgerät, aber sie weigerte sich, das einzusehen. Alle nuschelten, wenn es nach Vera Pulanski ging. Jeder Mensch auf dieser Welt!
„Ich mache gerade Frühstück!“, kam es von unten.
Courtney starrte an die Decke und verdrehte die Augen. „Ich habe keinen Hunger!“
„Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!“
Sie wohnte genau seit einer Woche bei ihrer Großmutter, und bislang hatten sie jeden Morgen die gleiche Unterhaltung geführt.
„Ich esse später was!“, versprach Courtney. Bei dem Gedanken an Großmutters vertrocknetes Rührei wurde ihr fast schlecht. Alles, von dem sie glaubte, dass es gut oder nicht gut für Teenager wäre, hatte sie aus dem Fernsehen. Offensichtlich schien es die sicherste Art der Zubereitung zu sein, wenn man etwas zu Tode kochte. Entsprechend schmeckten die Rühreier ihrer Großmutter wie Gummi. Nicht dass Courtney jemals Gummi probiert hätte, aber sie könnte wetten, dass es so ungefähr hinkam.
„Ich hasse es, Lebensmittel wegzuwerfen.“
„Tut mir leid, Grandma.“ Bei den vielen Mahlzeiten, die sie seit ihrer Ankunft hier ausgelassen hatte, müsste Courtney eigentlich abgenommen haben. Aber das war keineswegs so. Heute Morgen hatte die Waage geradezu anklagend ihr Gewicht angezeigt. Frisch aus der Dusche und vollkommen nackt war sie auf die altertümliche Badezimmerwaage gestiegen. Sie hatte die Augen zusammengekniffen, sie wieder vorsichtig geöffnet und dann auf die Anzeige hinuntergestarrt, auf
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