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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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konzentrieren«, sagte Martin, »und uns die größeren Freiheiten zunutze machen, die uns die Masken gewähren, können die unerwarteten Wendungen, die sich aus bestimmten Situationen ergeben, viel zur Wirkung beitragen. Die Zuschauer werden ganz und gar überrascht sein; sie wissen ja nicht, was sie zu erwarten haben. Selbst wenn wir uns bei manchen Dingen unbeholfen anstellen – dem Unerwarteten tut das keinen Abbruch. Sollte einer von uns allerdings auf den Gedanken kommen, den Ablauf der Geschichte zu ändern, muß er zuvor das Zeichen geben, damit die anderen Bescheid wissen und darauf vorbereitet sind.«
       Ich kannte dieses Zeichen nicht, doch es wurde mir gezeigt: Die Hand wird im Gelenk gedreht, so, als wollte man eine Schraube anziehen. Man kann diese Bewegung schnell oder langsam ausführen und den Arm dabei in jeder Stellung halten – Hauptsache, die Drehung der Hand ist zu sehen.
       Bei der Verteilung der Rollen ergaben sich einige Schwierigkeiten. Im ›Stück von Thomas Wells‹ gab es drei Haupthandlungen: der Aufbruch, die Begegnung auf dem Weg und das Auffinden des Geldes. Dafür wurden sechs Schauspieler gebraucht, die Darsteller der Tugenden und Laster nicht mitgerechnet. Deshalb mußten einige von uns zwei Rollen übernehmen. Doch die Hauptschwierigkeit betraf Springer. Da er erst fünfzehn war und zudem klein für sein Alter, lag es auf der Hand, daß er den Thomas Wells spielte. In der Tat war er der einzige von uns, der dafür in Frage kam, was jedoch zur Folge hatte, daß er keine der Frauenrollen übernehmen konnte, da beide Frauen zur gleichen Zeit wie der Junge vor den Zuschauern erschienen.
       »Dann muß Straw es übernehmen«, sagte Martin. »Er kann die Mutter ohne Maske spielen und die schuldige Frau mit zwei Masken – einer Engelsmaske, mit deren Hilfe sie den Jungen täuscht, und einer Dämonenmaske für den Mord. Und wir werden die Avaritia und die Pietas auftreten lassen, die sich um die Seele der Frau streiten. Ich werde die Avaritia spielen, Tobias die Pietas, weil wir uns aus dem Zwischenspiel des Ackersmanns schon ein bißchen in diesen Rollen auskennen. Außerdem spiele ich den Mönch. Den Betrunkenen in der Schenke spielt Stephen.«
       »Eine sehr passende Rolle«, sagte Margaret. Seit sie die Sache mit Flint aufgedeckt hatte, war sie in der allgemeinen Achtung gestiegen, und niemand tadelte sie jetzt, nicht einmal Stephen, auch wenn er finster dreinblickte.
        »Stephen wird auch den Diener spielen, der den Mönch zum Haus der jungen Frau begleitet«, sagte Martin. »Nicholas spielt den Guten Rat. Er wird dem Jungen eine Predigt halten, um ihn zu überreden, auf der Straße zu bleiben.«
       »Du könntest ein paar lateinische Brocken einstreuen«, sagte Straw, und während er seinen Blick himmelwärts wandte, intonierte er mit nasaler Stimme: »Hax, pax, max. Deus adimax. Wie meinst du das – auf der Straße bleiben?« fragte er Martin.
       »Die Straße ist der Weg des Lebens, und einer Versuchung wegen von ihr abzubiegen ist der Weg des Todes. Das haben wir doch schon in mehreren Moralitäten gespielt. In diesem Fall besteht der einzige Unterschied darin, daß der Tod, der die Seele bedroht, zugleich der Tod des Körpers ist. Die Frau bringt den Jungen durch Versprechungen in Versuchung, und er folgt ihr.«
       »Folgt ihr?« Straw ließ ein unsicheres Lachen hören. »Aber er ist ihr doch gar nicht gefolgt. Man hat ihn auf der Straße gefunden, den armen Kerl.«
       Für einen langen Augenblick musterte Martin ihn schweigend. »Nein«, sagte er ruhig. »Er muß mit ihr gegangen sein, erkennst du das denn nicht? Als sie sich auf der Straße begegneten, war es noch nicht ganz dunkel. Die Frau war vom Gemeindeland heruntergekommen, weil sie den Burschen gesehen hatte oder aus irgendeinem anderen Grund. Es waren noch Leute unterwegs. Kurz zuvor war der Benediktiner vorbeigekommen. Wäre der Tod des Jungen durch einen Schlag verursacht worden, hättest du vielleicht recht. Aber den Jungen auf offener Straße auf eine solche Weise zu töten, während es noch hell war … Nein, die Frau hat ihn mit zu ihrem Haus genommen und dort die Tat verübt.«
       Straw schüttelte den Kopf. »Dann wäre sie das Wagnis eingegangen, zusammen mit dem Jungen gesehen zu werden«, sagte er. »Und nachher?« bemerkte Stephen. »Hat sie die Leiche im Dunkel der Nacht zur Straße zurückgeschleppt?«
       »Sie kannte das Gelände«, sagte Tobias. »Trotzdem wäre

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