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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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es für eine Frau eine schwere Last gewesen und überdies gefährlich, wegen der Schräge des Hanges, und die Frau hätte es nicht gewagt, ein Licht zu benutzen.«
       »Tja, aber so muß es gewesen sein«, sagte Martin. »Anders ist es gar nicht zu erklären. Sie hat den Jungen irgendwohin mitgenommen. Und da wir nun mal eine Szene daraus machen müssen, zeigen wir halt, wie sie ihn zu ihrem Haus mitnimmt.«
       Das war wieder eine Aussage, wie sie von uns allen nur Martin machen konnte. In der darauf einsetzenden Stille schauten wir ihn an, wie er vorgebeugt dort hockte und mit den Armen die Knie umschlungen hielt. Es schien, als würden wir noch etwas von ihm erwarten, vielleicht ein Wort des Bedauerns. Doch das Gesicht, das er uns zukehrte, dieses Antlitz mit den langen, schmalen Augen und den scharf gezeichneten Knochen an Wangen und Schläfen, drückte nichts weiter als Selbstsicherheit und Gleichmut aus. Er wußte nicht, an welchen Ort die Frau den Jungen gebracht hatte; jetzt aber waren die beiden bloß noch Figuren in einem Stück, und für Martin war die Wahrheit des Schauspiels wichtiger als die Wahrheit über diesen Ort. »Den Jungen zur Straße zurückzubringen war sehr klug«, sagte er. »Auf diese Weise sah es so aus, als hätte jemand die Tat begangen, der zufällig des Weges kam. Die Straße wird von vielen Leuten benutzt, und wo viele verdächtigt werden, hat der wirklich Schuldige gute Aussichten, ungeschoren davonzukommen.«
       Auf diese Version einigten wir uns schließlich; so wollten wir unser Stück gestalten. Wir probten bis spät in die Nacht und gingen immer wieder die Bewegungen und die Worte durch. Als wir endlich Schluß machten, waren wir alle erschöpft, doch ich konnte lange Zeit nicht einschlafen. Im Stroh war Ungeziefer, und mir war kalt, obwohl ich die Narrenkappe trug und mich zusätzlich zu der Priesterkutte, die ich trug, noch in Evas Umhang gewickelt hatte. Martin und Tobias hatten Decken, und Straw und Springer teilten sich eine und schliefen zusammen darunter. Wir anderen benutzten alles, was sich auf dem Karren befand und zum Zudecken eignete.
       In der Stille der Nacht kehrte das Gefühl der Angst in mein Inneres zurück. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Frau mit ihrer Last, während Dämonen sie durch die Dunkelheit geleiteten. Es waren sternenlose Nächte, durch die Schneewolken in Schwärze erstickt. Doch die Frau hatte ihren Weg gefunden; Dämonen hatten sie geleitet. Dieselben Dämonen, die jetzt uns leiteten.

Kapitel neun 
    ch erwachte beim ersten Licht. Es war bitterkalt. Das Feuer war erloschen, und ich hörte, wie Stephen stöhnte, von einem quälenden Traum gepeinigt. Dann verstummte er, und ich spürte die Stille und wußte, daß draußen eine dicke Schneeschicht lag. Ich ging hinaus, um auf dem Hof meine Blase zu entleeren. Der Hund kam mit mir, winselnd und schnüffelnd, als würde er irgend etwas von mir erwarten, nun, da ich aufgestanden war. Als ich in den Schuppen zurückkehrte, hörte ich einen Hahnenschrei und das Gebell von Hunden in der Ferne. Zwei Hausdiener in Lederschürzen stapften mit Besen und Schaufel auf den Hof, um den frisch gefallenen Schnee wegzuräumen. In der kalten Luft lag der Gestank von Pferden, und hinter den Dächern der Stadt sah ich einen weißen Hügelhang. Später erinnerte ich mich sehr deutlich an diese Dinge, mit jenem Gefühl der Sehnsucht, das wir mitunter empfinden, wenn wir versuchen, einen Teil unseres Lebens zurückzugewinnen, den wir für immer verloren haben, wenngleich sein einziger Wert darin bestehen mag, daß wir ihn verloren haben.
       Er wirkte wie Frieden auf mich, dieser kalte Morgen mit seiner stillen, beruhigenden Schneedecke, die über der Stadt und der gesamten Umgebung lag. Es ist sonderbar, daß dieses Bild eine solche Wirkung auf mich hatte; denn meine Blicke auf die Welt außerhalb der Kirchenmauern hatten mir schon Ärger genug eingebracht, und meine Sünden häuften sich. Ich hatte die Abschrift von Pilato nicht beendet; ich befand mich ohne Erlaubnis außerhalb meiner Diözese; ich hatte in Schenken gesungen und meine heiligen Reliquien beim Würfelspiel verloren; ich hatte mit einer Frau Unzucht begangen; und ich hatte mich einer Truppe fahrender Schauspieler angeschlossen, was einem Geistlichen, gleich welchen Ranges, ausdrücklich verboten war. Durch alle diese Taten hatte ich Gott beleidigt und dem Bischof von Lincoln, der wie ein Vater zu mir gewesen war, Schmerz bereitet.

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