Die Masken der Wahrheit
Doch verglichen mit dem, was nach der Aufführung unseres Stücks von Thomas Wells geschehen sollte, war diese Zeit geradezu sorgenfrei.
Ich behielt die Narrenkappe auf und hüllte mich, so gut es ging, in Evas Umhang. Dann setzte ich mich drinnen mit dem Rücken zur Wand ins Stroh, während das Licht heller wurde und aus den Zimmern über uns die ersten Geräusche und Stimmen erklangen. Mir kam der Gedanke, daß ich einfach aufstehen könnte, um all diese Kostüme und Masken und Verkleidungen hinter mir zu lassen und in der Stille des Morgens davonzugehen, in meinem ordentlichen Priestergewand, so, wie ich gekleidet gewesen war, als ich auf die Schauspielertruppe traf. Mein Zustand war derselbe: Mir war kalt, ich war hungrig und ohne einen Penny, genau wie damals. Doch mich hatte eine Verwirrung befallen zwischen der Rolle, die man spielt, und der, die man lebt, und weil ich unbedingt die Wahrheit berichten möchte, will ich nicht verschweigen – so schwer es mir auch fällt –, daß mir ein Priestergewand inzwischen nicht weniger wie eine Verkleidung erschien als das weiße Gewand, das Stephen als Gottvater trug, oder das Gewand aus Pferdehaar des Antichristen. Vielleicht hatte ich mich aber auch nur an meine Sünden gewöhnt. Auf jeden Fall ging der Augenblick vorüber.
Ich sah, wie Straws zerzauster Haarschopf sich von dem Bündel erhob, auf dem er geruht hatte, und wie sein Kopf sich träge nach allen Seiten bewegte. Springer neben ihm rührte sich nicht. Margaret lag wie eine Tote unter einem Haufen roten Vorhangstoffs. Dann erhob Martin sich von seiner Schlafstelle, schauderte zusammen, murmelte in die Kälte ein paar Worte vor sich hin und wünschte mir einen guten Morgen. Und so begann der Tag.
Der Morgen verging mit Proben, wenngleich in dem Schuppen nicht genügend Platz war, um die Bewegungen richtig auszuführen. Tobias und Margaret fertigten gemeinsam eine Puppe an, die Thomas Wells darstellen sollte, wobei sie Stroh vom Fußboden sowie Schnüre und Fetzen von Kleidungsstücken benutzten; dann setzten sie ihm die weiße Maske auf, die Straw manchmal trug, wenn er den Mann von Welt spielte – eine Maske, die keinerlei Ausdruck zeigt, weder einen guten noch einen bösen. Die Puppe wurde gebraucht, um den Übergang vom Leben zum Tod zu zeigen; überdies mußte das Bündel leicht genug sein, daß man es tragen konnte.
Martin wollte es zuerst genauso halten, wie wir es beim Stück von Adam getan hatten: daß wir uns im Schuppen umkleideten und dann durchs Publikum zur Bühne gingen. Doch Springer, der nach seinem Tod als Thomas Wells einen Engel darstellen sollte, welcher dem Mönch zeigte, wo das Geld versteckt lag, war nicht damit einverstanden. »So dicht gehe ich nicht zwischen den Leuten hindurch«, sagte er. Springer war eine furchtsame Seele und in mancher Hinsicht wie ein Mädchen: Er schämte sich nicht zu zeigen, daß er Angst hatte. Und wir anderen waren ihm insgeheim dankbar dafür, weil wir alle die gleiche Furcht verspürten. Jeder Schauspieler hat eine gewisse Angst; denn er ist allen Blicken ausgesetzt und kann sich nirgends verbergen, ohne aus dem Stück auszuscheiden. Diesmal war das Gefühl noch stärker als sonst, wußten wir doch, daß unser Stück dem wirklichen Leben unserer Zuschauer sehr nahe kam. Deshalb beschlossen wir, dicht an der Mauer auf dem Hof des Wirtshauses eine Garderobe aus Vorhängen zu errichten, unmittelbar neben der Bühnenfläche.
Als die Mittagsglocken zu läuten begannen, waren wir noch immer mit dem Aufbau der Garderobe beschäftigt. Zwei Seitenwände wurden errichtet, indem wir Stöcke durch den Saum des Vorhangs führten, die wiederum auf Pfosten befestigt wurden; die anderen beiden Seiten der Garderobe wurden von der Mauer selbst gebildet, da die Garderobe in einer Ecke des Hofes stand. Während diese Arbeit von Stephen, Tobias und mir erledigt wurde, sorgten die anderen mit allerlei Kunststücken für die Unterhaltung der Zuschauer. Schon jetzt befanden sich mehr Leute auf dem Hof, als am Abend zuvor zu unserer Aufführung erschienen waren, und es kamen immer noch mehr. Straw und Springer schlugen aus entgegengesetzten Richtungen Rad, während Martin auf den Händen stand, wobei er auf beiden Fußsohlen farbige Bälle balancierte, einen weißen und einen roten; dann ging er auf den Händen über die vereisten Pflastersteine, wobei er Beine und Füße so gerade hielt, daß die Bälle nicht herunterrollten. So etwas hatte ich
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