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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Unsworth
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noch nie gesehen. Schließlich war unsere Arbeit an den Vorhängen beendet, und wir alle, außer Martin und Tobias, zwängten uns in die behelfsmäßige Garderobe und bereiteten uns dort für den Auftritt vor. Martin und Tobias traten noch einige Minuten vor dem Publikum auf; der eine warf Bälle in die Luft, und der andere schlug Purzelbäume und fing sie auf. Dann gesellte Tobias sich zu uns. »Der Hof ist voll«, flüsterte er. Wir standen dort in dem beengten Raum, lauschten zuerst Tobias’ heftigem Atmen, das von der Anstrengung herrührte, und dann der Stimme Martins, als er den Prolog sprach:
 »Ihr guten Leut’, wir bitten um Geduld,
     Und schenket uns auch weiter Eure Huld
     Zu diesem unsrem Spiel …«
       Dies waren die Verse, auf die wir uns geeinigt hatten und die aus einem Zwischenspiel mit dem Titel ›Der Weg des Lebens‹ stammten. Wir hatten sie da und dort leicht abgeändert, damit sie besser zur Grundstimmung unseres Stückes paßten. Doch nachdem Martin die Worte gesprochen hatte, gesellte er sich nicht sofort zu uns, sondern blieb vor dem Publikum stehen. Damit hatten wir allerdings nicht gerechnet, und ich glaube, er selbst hatte es vorher auch nicht gewußt. Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Vom Publikum kam kein Laut. Dann sprach Martin wieder, jedoch mit seiner normalen Stimme:
       »Gewährt uns Eure Aufmerksamkeit, Ihr guten Leute. Dies ist ein Stück über Eure Stadt, so, wie sie heute ist. Es ist Euer Stück, und das ist etwas Neues. Denn nie zuvor wurde ein Stück geschrieben, das einer Stadt gehört. Und dieses Schauspiel gereicht Eurer Stadt zur Ehre, denn es zeigt, daß Übeltäter hier in unvergleichlich kurzer Zeit ihre gerechte Strafe finden.«
       In unserer behelfsmäßigen Garderobe musterten wir einanderstumm. Tobias runzelte die Stirn, als er sich die Maske der Pietas auf setzte. Ich sah, daß Straws Unterlippe leicht bebte. Die anderen schaute ich mir nicht genauer an, doch ich glaube, wir alle hatten Angst. Ich trat zum Vorhang, erweiterte den Spalt ein Stückchen und spähte hindurch. Dicht über der Mauer, die nach Süden zeigte, trat in diesem Augenblick der Rand der Sonne hervor. Ihre schwachen Strahlen fielen über den Hof und ließen die feuchten Steine erglühen. Auf allen Dingen lag ein seltsames Licht, ein Schnee-Licht, obwohl der Hof doch freigeschaufelt und gekehrt worden war; und das Licht war sanft und mitleidlos zugleich: Es gab keine Schatten darin. Es war, als hätte sich alles Licht, das von den Meilen um Meilen schneebedeckter Fläche erstrahlte, hier auf dem Hof für unser Stück gesammelt. Es lag auf den Gesichtern der Menschen, die dort dicht beieinander standen, für diesen Tag des Jahrmarkts gekleidet; die rauhen Gesichter der Arbeiter, die blasseren der Diener und Hausmädchen, und hie und da die schärferen Züge oder das würdevollere Antlitz eines Reichen. Alle diese Gesichter waren Martin zugekehrt, und es war seine Stimme, die den Hof erfüllte.
       »Wenn wir ein Stück über eine schändliche Tat spielen, so darum, daß denen, die daran teilhaben, und allen, die es sehen, Gottes Erbarmen offenbar werden kann. Deshalb bitten wir Euch, die Ihr Erbarmen sucht, dies auch uns armen Schauspielern und all jenen zu gewähren, die wir in unseren Rollen verkörpern.« Mit einer plötzlichen Bewegung streckte er die Arme zur Seite aus, die Handflächen den Leuten zugekehrt, und hob sie über die Schultern. »Hochverehrtes Publikum«, sagte er, »wir zeigen Euch nun unser Stück von Thomas Wells.«
       Dann kam er zu uns anderen zurück, und sein Gesicht wirkte ruhig, doch sein Atem stockte leicht. Straw, Springer und Stephen traten hinaus, um mit der Vorstellung zu beginnen. Straw trug die Haube einer Landfrau, und sein Kleid war in Brusthöhe ausgestopft, so daß es aussah, als hätte er einen Busen. Stephen war in seine zerschlissene Weste gekleidet, die er schon getragen hatte, als ich ihm das erste Mal begegnet war – damals, als er mich mit seinem Messer bedrohte. Springer, als Thomas Wells, trug sein schmuckloses Wams und seine Beinkleider.
       Tobias hatte aus schwarzem Filz eine Geldbörse gefertigt, sehr groß und prall, auf daß alle sie sehen konnten, und nun warf Stephen diese Börse in die Höhe, damit das Publikum einen noch besseren Blick darauf hatte; dazu lachte er wie ein Trampel – »Ho-ho-ho« – wobei er die Hände leicht in die Hüften stemmte, während er den Oberkörper vor und zurück wiegte. Martin

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