Die Masken des Morpheus
Xix. Von ihr geht im Moment die größte Bedrohung aus. Um Baladurs Tochter und um Tobes’ Sohn können wir uns später kümmern.«
»Warum spannen wir die Kinder nicht für unsere Zwecke ein, Herr?«
»Was?«
»Seit ewigen Zeiten versuchen wir Ikelas Burg Phobetor aufzuspüren. Ohne Erfolg. Wenn die Halbwüchsigen den Weg dorthin kennen, könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen.«
»Du meinst drei.«
»Wie bitte?«
»Ikela, Arian und Mira. Wir müssten die Jungen nur auf unsere Seite ziehen, dann kriegen wir die Alte ebenfalls.«
»Ich glaube, ich weiß auch schon wie, Herr.«
»Du denkst an unseren Dauergast?«
Xix nickte. Ein diebisches Grinsen umspielte seine Lippen. »Ihr hattet recht, als Ihr sagtet, er werde uns eines Tages nützlich sein. Heute ist dieser Tag gekommen.«
Im Elfenbeinpalast des Metasomenfürsten
erleben Arian und Mira ein Wechselbad der Gefühle.
Auf Angst folgen Herzklopfen, Staunen, Argwohn und Tränen.
Ivoria, 14. Juni 1793
Arian hätte nie gedacht, dass sich unter einem derart prachtvollen Palast ein so schäbiger Kerker befinden könnte. Man hatte ihn zusammen mit Mira in ein fensterloses Loch gesperrt, das eher einer Höhle als einer Zelle glich. Für beide gab es nur eine Pritsche, die halb vermodert war. Die Wände waren feucht und rau und mit Schimmelflecken übersät. Das unstete Licht in dem Gelass kam von einer Öllampe, die man ihnen zugestanden hatte. Durch eine verrostete Gittertür blickten sie auf einen Gang, der an einen Bergwerksstollen erinnerte. Von Tarin war weder etwas zu sehen noch zu hören. Die Palastwache von Ivoria hatte ihn in einen anderen Teil des Verlieses geführt.
»Ich fass es nicht, dass er uns so hintergangen hat«, fauchte Mira. Sie wollte sich einfach nicht beruhigen.
»Immerhin hat er uns das Leben gerettet«, gab Arian zu bedenken. Er kniete vor der Zellentür und hatte seine Hand auf das Schloss gelegt.
Mira warf erregt die Arme in die Höhe. »Sag mal, willst du das nicht begreifen oder kannst du nicht? Er ist der Sohn von Ikela, der hinterhältigsten Körpertauscherin aller Zeiten.« Sie schnaubte. »Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass Mortimer mein Urgroßvater ist?«
»Bei dir ist das was anderes.«
»Ach! Und wieso?«
»Weil …« Sie druckste. »Weil wir uns einen Körper geteilt haben. Ich konnte spüren, dass dir jede Arglist fremd ist. Aber Tarin …« Sie schüttelte zornig den Kopf. »Ikela könnte deine und meine Eltern ermordet haben. Dass Tarin uns nicht verraten hat, wer seine Mutter ist, sollte dir zu denken geben.«
Arian ließ das Schloss los, sah das Mädchen an und seufzte. »Mira, jetzt beruhige dich doch mal, und überleg, was du da sagst. Du hast mir zu Recht dein Leid über die ›Versteinerung der Herzen‹ geklagt, die Unmenschlichkeit und Tod in dein Land gebracht hat …«
»Ist ja auch so. Wie würdest du es denn nennen, wenn sie einen Selbstmörder köpfen, in dem schon lange kein Leben mehr ist? Es genügt bereits, dass ein neidischer Nachbar dich denunziert, und du kommst auf die Maschine.«
»Und du legst gerade Tarin unters Fallbeil.«
»Was?«, schnappte sie. »Das stimmt doch gar nicht.«
»Allerdings, Mira«, widersprach er ruhig. »Du kannst nicht das Unrecht im Großen beklagen und im Kleinen genau dasselbe tun. Meinst du, ich möchte von der Welt als Urenkel eines Scheusals gesehen werden? Aus ähnlichen Gründen könnte uns Tarin seine Mutter verschwiegen haben. Ich finde, jeder sollte sich verteidigen dürfen. Wenn du ihm dieses Recht absprichst, bist du nicht besser als die Jakobiner und Sansculotten, die dich so aufregen.«
Arians schonungslose Direktheit hatte ihr die Sprache verschlagen. Sie sah ihn nur mit offenem Mund und leidendem Blick an. Seine Gefühle für Mira waren längst viel zu stark geworden, um über ihre selbstzerstörerische Engherzigkeit hinwegzusehen. Sie stand kurz davor, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Andererseits wollte er ihre Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Er wandte sich wieder dem Schloss zu, weil er es nicht ertrug, wie sie ihn anstarrte.
»Sag mal, was tust du da eigentlich?«, fragte sie nach einer Weile.
Ihr sanfter Ton ließ ihn aufatmen. Sie war ihm also nicht böse. Er blickte zu ihr auf und zog den Mund schief. »Ich hatte mal die Fähigkeit, Dinge mit Geisteskraft zu erwärmen. Wenn ich sie berührte, ging es
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