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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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beiden Dienststunden kaffeetrinkend im Café Florian zu vertrödeln, sich bei jeder Gelegenheit kritisch über die italienische Einheit zu äußern oder über die nächste Ausgabe des Emporio della Poesia nachzusinnen, anstatt die Akten zu bearbeiten, die sich auf dem Boden seines Büros stapelten. Und zweifellos entsprang es auch einem dekadenten Mangel an Disziplin, den Hauptgang, der im Palazzo Balbi-Valier serviert wurde (heute Abend hatte es sich um eine gebratene Wachtel gehandelt) immer öfter zugunsten der Desserts zu vernachlässigen, gewissermaßen nur pro forma an ihm teilzunehmen, um den aufgesparten Appetit vollständig in den Dienst von Soufflés, Halbgefrorenem, raffinierten Schokoladenderivaten und exotischen Früchten zu stellen.
    Etwa in den Dienst der goldfarbenen Ananas, die er gerade mit einem scharfen Messer in mundgerechte Portionen zerteilt und mit den entsprechenden Zutaten versehen hatte. Seit einiger Zeit hatte Tron die Zerlegung der Frucht nicht mehr einem der äthiopischen Diener der Principessa überlassen, sondern darauf bestanden, es höchstpersönlich vorzunehmen. Also zuerst den grünen Schopf der Frucht abzutrennen, um sie anschließend in fingerdicke Scheiben zu schneiden, von denen er nur noch die holzige Mitte und den schuppigen Rand entfernen musste. Auf die untertassengroße gelbliche Scheibe konnte er Schlagsahne häufen, und auf die Schlagsahne Mandelkrokant oder grob zersto ßenes Sahnebaiser. Vor allem konnte er, wenn er einmal damit angefangen hatte, nicht so schnell wieder aufhören.
    War es bereits die vierte Ananas, die er sich jetzt einverleibte, oder erst die dritte? Und wenn es sich bereits um die vierte – und letzte – handelte, überlegte Tron weiter, wäre es dann nicht angemessen, das Essen mit ein wenig Schokoladenmousse zu beschließen? Immerhin hatte es sich in seinem Fall bei der Ananas um den Hauptgang gehandelt.
    Und ein Hauptgang ohne anschließendes Dessert war ein Ding der Unmöglichkeit. Allerdings konnte sich die Principessa auf den Standpunkt stellen, dass …
    Tron hob den Kopf. Die Principessa hatte etwas gesagt, was er nicht verstanden hatte.
    «Drei Gulden oder umgerechnet sechs Lire», wiederholte sie.
    «Wie bitte?»
    «Drei Gulden oder umgerechnet sechs Lire. Und dabei  handelt es sich um den Stückpreis.»
    «Was kostet pro Stück sechs Lire?»
    Die Principessa ließ einen Rauchring über den Tisch  schweben. Ohne Tron anzusehen, sagte sie: «Eine Ananas.  Vier dieser Früchte kosten demnach vierundzwanzig Lire.  Die Kosten für den Champagner dürften sich auf weitere zwölf Lire belaufen. Wir sind also bei sechsunddreißig Lire.»
    Also ungefähr bei dem Betrag, den er als Commissario in der Woche verdiente, dachte Tron. Würde ihn die Princi pessa auf diesen Umstand hinweisen? Nein – denn es reichte, dass sie wusste, dass er es wusste. Tron, der sich immer noch fragte, was das alles sollte, runzelte die Stirn.
    «Möchtest du, dass ich in Zukunft auf mein Dessert verzichte?» Er hielt es für unklug, der Principessa zu erklären, dass er das de facto bereits getan hatte.
    Das Lächeln der Principessa war ein wenig kühl. «Selbstverständlich möchte ich das nicht. Zumal dir ganz offensichtlich viel daran liegt. Aber es könnte eine Situation eintreten, die uns zwingt zu sparen.»
    Tron fand, dass sich dieser Satz aus dem Mund einer  Frau, die einen aufwendig renovierten Palazzo am Canal Grande bewohnte und ein Dutzend Hausangestellte beschäftigte, etwas seltsam anhörte.
    Jetzt war das Lächeln auf dem Gesicht der Principessa verschwunden. «Hat die Contessa nichts erwähnt?»
    «Was hätte sie erwähnen sollen?»
    «Die böhmischen Glasfabrikanten haben sich in Wien  beschwert», sagte sie, ohne die Stimme zu heben – ihre übliche Tonlage für das Verkünden schlechter Nachrichten.
    «Wir verkaufen zu viel von unserem Pressglas nach Österreich. Jetzt denkt man im Handelsministerium über Schutzzölle nach.» Sie schwieg und blickte der lavendelfarbenen Rauchwolke hinterher, die aus ihrer Zigarette aufstieg.
    «Wenn es zu Schutzzöllen kommt, machen wir keinen  Gewinn mehr.» Und dann kam es, mit einer Stimme, die ausgesprochen beiläufig klang: «In diesem Fall muss ich die Fabrikation beenden.»
    Tron brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was die Principessa gesagt hatte. Dann muss ich die Fabrikation beenden. Der Vertrieb des Pressglases nach Österreich war die Domäne seiner Mutter, der Contessa Tron. Eine Ein

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